Wagnis Grenzübergang Impuls 15

Die Mathematik ist eine reine Geisteswissenschaft. Ihre Strukturen sollen in sich konsistent sein. Ein Bezug zur Natur, gar eine Beschreibung derselben ist nicht beabsichtigt. So erscheint es wie ein Wunder, dass manche dieser Strukturen jenen in der Natur so genau entsprechen, dass man aus mathematischen Gedanken heraus Vorhersagen auf noch unentdeckte äußere Erscheinungen machen konnte. Zwar sagt schon der erste Satz des Johannesevangeliums, dass der Geist das Primäre sei, aber es wundert mich doch, dass es so sehr wahr ist, als sei die Natur aus einem mathematischen Geist, dem Logos, entstanden.

Beispielsweise gibt es in der Mathematik den Begriff des Grenzübergangs. Wenn eine Zahlenfolge sich immer mehr einem bestimmten Wert annähert, dann bedarf es eines Grenzübergangs, um diesen Wert zu erreichen. Das kann man sich am Beispiel eines Kuchens klar machen, der so geteilt wird, dass immer die Hälfte des verbleibenden Restes übrigbleibt: das erste Stück ist die Hälfte, das zweite ein Viertel, dann ein Achtel und immer so weiter. Immer bleibt noch ein Rest übrig, der sich wieder halbieren lässt. Aber er wird immer winziger. Die Summe aller Teile wäre der ganze Kuchen, aber weil „alle Teile“ unendlich viele sind, braucht es den Grenzübergang, um von all den Teilen auf den ganzen Kuchen schließen zu können.

Hierzu passt auch das berühmte Paradox von Achilles und der Schildkröte: Die beiden veranstalten ein Wettrennen. Und weil Achilles ein schneller Läufer ist und Schildkröten bekanntlich sehr langsam, bekommt sie einen Vorsprung. Nun rennt Achilles los, hinter der Schildkröte her. Doch kommt er dort an, wo sie war, als er loslief, ist sie schon ein Stück weiter. Achilles muss also aufholen. Doch wieder: Kommt er dort an, wo sie eben noch war, ist sie wieder ein Stück weiter. Die Strecken werden immer kleiner, aber es sind unendlich viele. Und deshalb könne Achilles die Schildkröte nie einholen. Wir wissen, dass das nicht stimmt: Die unendlich vielen immer kleiner werdenden Strecken addieren sich zu einer endlich langen Strecke – und dort, beim Grenzübergang dieser Additionen, überholt Achilles die Schildkröte.

Als drittes Beispiel können wir Gott und Adam auf dem Bild in der Sixtinischen Kapelle nehmen: Adams Finger nähert sich dem Gottes, erreicht ihn aber nicht. Wäre auch hier einen Grenzübergang möglich? Könnte Adam die Hand Gottes einfach ergreifen? Im Grunde ist der Grenzübergang ein logischer Sprung, der etwas von einem Wagnis hat. Immer wenn aus einer Annäherung eine Berührung wird, findet so ein Grenzübergang statt. Nur selten fällt uns das Wagnis auf, das damit verbunden ist, ganz deutlich bei einem ersten Kuss. Und der Kuss symbolisiert: Es kann berührt, ergriffen werden, die Annäherung ist nicht alles.

Doch wie ist es mit dem Tod und dem ewigen Leben? Allen Menschen ist bestimmt, sich der Grenze des Todes zu nähern. Wieder können wir uns eine Annäherung unendlich vieler immer kürzer werdender Zeitabschnitte denken. Und dann? Öffnet sich ein Tor, durch das wir hindurchgehen, wie Achilles die Schildkröte überholt? Erweist sich das Leben auch für den Sterbenden als ein Ewiges nicht nur der unendlichen Annäherung, sondern mit Grenzübergang? Hinweise, sogar Zeugnisse gibt es aus allen Zeiten in allen Kulturen. Auch die Wissenschaft sammelt Informationen über Annäherungen an den Tod. Doch der Schritt zur Anerkennung des ewigen Lebens ist dann wieder ein Grenzübergang, der die Hinweise zu einem Ganzen zusammenfügt, von dem wir nicht wissen können, ob es existiert. Viele Menschen wagen es nicht, über diese Brücke zu gehen. Sie begnügen sich mit den gesicherten Teilen und glauben nicht an das Ganze, aus dem all diese Teile genommen sind.

Denn wenn die Welt nicht so ist, wie sie uns landläufig erscheint, muss uns das sehr verunsichern. Die vielen Hinweise auf einen anderen Teil der Wirklichkeit sind ja noch nicht die höhere, die ganze Wirklichkeit, aber streben ihr zu – wir können den Grenzübergang vollziehen und z.B. zu der Überzeugung kommen, dass meine Seele Teil einer in Raum und Zeit unendlichen Wirklichkeit ist. In den Naturwissenschaften prüft man nach einem solchen Schritt, ob vollzogene Grenzübergänge zu stimmigen und vernünftigen Ergebnissen führen.

Diese Methode funktioniert auch im täglichen Leben wunderbar: Erst ein kleines Wagnis, dann die Prüfung an den Erfahrungen, das ist ein Weg der Erkenntnis. Aber ohne solche Sprünge kommt man nicht weiter.

K.B. und W.D.

 

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