Wem gehört unser Leben? Unser freier Wille steht im Zentrum

Die überkommene Antwort der christlichen Kirchen

Wem gehört unser Leben? Die überkommene Antwort der christlichen Kirchen ist eindeutig: Unser Leben ist uns von Gott geschenkt, und es muss allein seinem Ratschluss überlassen bleiben, wann er uns aus unserer irdischen Existenz abberufen will. In dieser Perspektive ist es eine ethisch geschuldete Pflicht, die Situation des Sterbens auch bei schweren Leidenszuständen nicht durch eigenmächtige Verfügungen über den eigenen Tod zu ersetzen. Vor allem der „Selbstmord“ gilt als eine Schande, die die menschliche Würde angreift, die Zivilisation vergiftet und in höchstem Maße der Ehre des Schöpfers widerspricht.

Was ist daran fragwürdig?

Diese Sichtweise ist in zunehmendem Maße brüchig geworden. Der medizinische Fortschritt macht es seit langem möglich, Sterbeprozesse durch geeignete Maßnahmen so zu steuern, dass der Eintritt des physischen Todes längst nicht mehr allein von Gottes Willen abhängt, sondern maßgeblich beeinflusst wird von der ärztlichen Kunst. Hinzukommt in einer Gesellschaft, die sich an den Prinzipien des liberalen Rechtsstaates orientiert, der hohe Stellenwert des individuellen Selbstbestimmungsrechts. In rechtlicher Hinsicht steht heute außer Frage, dass eine medizinische Zwangsbehandlung gegen den erklärten oder erkennbaren Willen der Betroffenen unzulässig und sogar strafbar ist. Insoweit ist allein ihr Wille maßgeblich, auch wenn das zu einem aus medizinischer Sicht vermeidbaren, vorzeitigen Eintritt des Todes führt. Aber gilt das auch für den Suizid und das Recht, dafür fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen?

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020

Das Bundesverfassungsgericht hat sich dazu in seiner Entscheidung über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines Verbots des geschäftsmäßigen Angebots einer Assistenz zum Suizid klar positioniert. Das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben ist danach Ausdruck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und der Menschenwürde und schließt die Freiheit des Einzelnen ein, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzten. Er könne dafür auch fremde Hilfe in Anspruch nehmen, soweit sie angeboten wird. Dieses Recht bestehe als Akt autonomer Selbstbestimmung in jeder Phase der menschlichen Existenz, auch unabhängig davon, ob eine bestimmte medizinische oder andere extreme Notlage vorliegt. Im Klartext heißt das: Es gibt ein Recht auf den eigenen Tod und keine Pflicht zu leben. Einzelheiten zu der Entscheidung finden Sie hier.

Einen „freiverantwortlichen Suizid“: Kann es den geben?

Die gesamte Argumentation des Gerichts steht und fällt mit der Annahme, dass ein Mensch überhaupt in der Lage ist, eine so weitreichende Entscheidung, sich selbst das Leben zu nehmen, aus „freiem Willen“ zu treffen. Ist das realistisch? Es wird die schwierige Aufgabe des Gesetzgebers sein, Regelungen zu treffen, die einen möglichen Missbrauch des „geschäftsmäßigen“ Angebots der Beihilfe zum Suizid ausschließen. Welche Kriterien und Verfahrensweisen soll es dafür geben?  Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts muss vor allem ausgeschlossen werden, dass eine akute psychische Störung, eine Depression oder eine vorübergehende Lebenskrise vorliegt. Die tatsächliche Kenntnis aller entscheidungserheblichen Gesichtspunkte, einschließlich bestehender Alternativen muss ebenso gewährleistet sein wie die Verhinderung eines unzulässigen Drucks von außen. Wie soll das in der Praxis gehen? Die Diskussion ist eröffnet. Was meinen Sie dazu?

Dr. Jörg Winter

 

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1 Gedanke zu „<span class="entry-title-primary">Wem gehört unser Leben?</span> <span class="entry-subtitle">Unser freier Wille steht im Zentrum</span>“

  1. Mich beschäftigt die “freie Selbstverantwortung” des Willens. Ich verstehe sehr gut, dass sozialer Druck von außen als unzulässig – und auszuschließen – gilt. Aber wie lässt sich eine gesunde, soziale Einbindung, die die eigene Entscheidung mitträgt, unterscheiden von “sozialem Druck”, der gegen (oder sogar mit) meinem Willen den Sterbewunsch forciert?

    Ein internalisierter sozialer Druck (also einer, der als mein eigener Wille erscheint) wäre z.B. die Aussage: “Ich will Euch nicht zur Last fallen.” Nicht in jedem Fall kann eine Erleichterung angenommen werden, wenn alle Angehörigen einstimmig versichern: “Aber Du fällst uns doch nicht zur Last!” Ich denke, dass es sich in den seltensten Fällen um ein Missverständnis handelt, das nur zur Sprache gebracht werden muss, um ausgeräumt werden zu können.

    Wie frei ist der Wille, wenn ich dem Druck der Angehörigen nachgebe: “Mir ist das weiterleben in all den Abhängigkeiten (füttern, Toilette, Hygiene…) lästig. Lieber sähe ich mein Erbe Euch dienlich für Schritte in Eure Zukunft, die nicht mehr meine Zukunft sein wird, als dass es Tag für Tag in Pflegedienstleistungen fließt, die ich gar nicht will. Doch wenn Ihr darauf besteht, dass ich erst sterben soll, wenn der Tod ohne eigenen Entschluss kommt, dann sei dies eben mein Schicksal.”

    Ist eine solche Rede überhaupt möglich? Auch ich als Angehöriger hätte “darauf bestanden”, doch hat meine Mutter nie so gesprochen. Und so war die Begleitung ein gemeinsamer Weg, bis zum letzten Atemzug.

    Ich kann mir wohl einen sozialen Druck ausmalen, der aus dem Leben treibt anstatt am Leben halten zu wollen, aber richtig vorstellen, als reale Möglichkeit, kann ich ihn mir nicht. Für mich ist das Soziale das, was am Leben hält, ins Leben eingebunden hält. Viel eher kann ich mir einen Sterbewunsch vorstellen, der eine Art “Verhungern” ist, wenn es zu arg an sozialen Beziehungen mangelt, niemand da ist für mich und niemand, für den ich noch da sein kann. Dann wäre der Suizidwunsch frei. Doch was für eine schreckliche Freiheit wäre das!

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