Verstörende Einsichten Impuls 2

Ein eher gemütlicher, linksliberaler Bekannter, ich nenne ihn Gerd, bedrängt mich seit Monaten mit missionarischem Eifer, ich solle nicht alles glauben, was man mir erzählt. „In Wirklichkeit…“ Und zu dem, was er erzählt, denke ich: Vielleicht sollte er nicht alles glauben, was er hört. Ähnlich Inge, so will ich sie hier nennen. Ich kannte sie als materialistische Atheistin, mit der ich viel diskutiert habe, weil sie nicht verstehen konnte, wie ein intelligenter Mensch ernsthaft an Gott glauben kann. Kürzlich erzählte sie mir begeistert, sie wäre nun auch „auf meiner Seite“: Und zu dem, was sie erzählt, denke ich: So verstehe ich „meine Seite“ aber nicht. Ich finde solche Begegnungen verstörend. Einerseits habe ich den Eindruck, meine Bekannten hätten ihren Verstand verloren, andererseits strahlt aus ihren Augen eine Lebendigkeit, von der ich gerne etwas abhaben würde.

Was ist mit Gerd und Inge passiert? Es scheint einen Moment der Einsicht gegeben zu haben: „Ah, so hängt alles zusammen! Ich verstehe, jetzt ergibt alles einen Sinn!“ Ich fantasiere: Ein sich von vielfältigen Unsicherheiten bedroht fühlender Mensch, findet in unserer komplexen Welt keinen rechten Halt. Zugleich unzufrieden im Alltags-Hamsterrad und geängstigt von der Sorge, aus diesem geworfen zu werden, wächst der Eindruck: Irgendwas stimmt nicht, ist ganz und gar falsch. Im Internet findet er erst zufällig, bald immer gezielter ausbuchstabiert, was offiziell  – wie er bald meint – verschwiegen wird.

Gerd mag es erst ungeheuerlich erschienen sein, was er liest. Zum Beispiel wie eine machthungrige Elite die Menschheit seit langem manipuliert – und Außerirdische ziehen die Strippen. Anfangs fragt er noch hier und da nach, wird belächelt, er ist halt noch neu. Bald schreibt er, was er meint, schon verstanden zu haben. Er erntet viele Likes, merkt, dass er nun dazu gehört zum Kreis derer, die der Wahrheit auf der Spur sind. „Ah, so hängt alles zusammen!…“ Was er erfährt ist nicht schön. Doch das Leben ist wieder, wie es sein soll: aufregend, geheimnisvoll, sinnerfüllt, voller Bezüge und Freunde mit denen er sich austauschen kann. Ich könnte auch dazugehören, ist sein Angebot.

Es gibt noch mehr solche Bühnen, z.B. die von Inge. Die Menschheit, sagt sie, glaubt nur noch an das Heil aus materiellen Dingen – so wie sie früher auch. Allerdings verwandeln Wissenschaft und Wirtschaft die Erde in eine gigantische Müllhalde. Und die Politik sorgt dafür, dass das immer schneller und gründlicher gelingt, nennt es Wachstum und hält es für Wohlstand. Soweit teile ich Inges Sorge, bilde mir gar ein, zu ihrem Problembewusstsein beigetragen zu haben. Doch dann fand sie Informationen über geistig hoch aufgestiegene Seelen. Medien, die die Botschaften von Menschheitsführern – Engeln oder Geistwesen – erfassen und jenen zugänglich machen, deren spirituelle Entwicklung ihnen erlaubt, diese Wahrheiten zu erkennen. Niemals hat es in der Menschheitsgeschichte so viele Eingeweihte gegeben. Etwas Großes sei im Gange, sagt sie nun. Die geistige Wirklichkeit werde sich schon bald offenbaren. Ich kann das doch sicher auch fühlen.

Zu jeder solchen Bühne gibt es Anhänger wie Gerd und Inge, die in ihrem Drama buchstäblich gefangen sind. Ich versuche mir vorzustellen, was passieren würde, wenn Gerd und Inge miteinander ins Gespräch kämen. Würden sie versuchen herauszufinden, wer Recht hat? Wie würden sie das anfangen? Oder wüssten sie, dass sie Mitspieler in verschiedenen Geschichten sind, die ihre Fantasie anregen und in denen sie sich lebendig fühlen?

Wie dem auch sei, beide könnten das Internet auch nutzen, die tatsächlichen, faktischen Zusammenhänge zu recherchieren. Freilich ist der Weg von erst mal zu prüfenden Fakten zu Einsichten mühsamer, doch wenn mir ein Text geradezu aufdrängen will, was ich glauben soll, bin ich schnell skeptisch. Zwar höre ich oft: „Ich glaube nur, was ich sehe.“ Doch viel öfter gilt das Gegenteil: „Ich sehe nur, was ich glaube.“

WD

 

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