Mystische Schau der letzten Reise und empirische Forschung Fundstück 10

Die Ars moriendi, die Kunst des Sterbens, ist eigentlich nichts anderes als die Ars vivendi, die Kunst des Lebens, und diese ist wesentlich Ars amandi, die Kunst des Liebens. Von der Entscheidung zwischen ängstlichem Festhalten oder liebevollem Verschenken und Loslassen hängt das Gelingen des Lebens ab – und auch das rechte Sterben.

Die Frage, die alle Menschen, unabhängig von ihrem kulturellen Hintergrund bewegt: Wie kommen wir mit uns selbst und unserem Leben ins Reine?

In den spirituellen Traditionen, im spirituellen Erbe der Menschheit findet man Weisheitsschätze in symbolischer, verschlüsselter Sprache.

Eine bedeutende solche Weisheitslehre enthält das Bardo Thödol – das Tibetanische Totenbuch (8. Jhd.). Das Wort Bardo kann vereinfacht als Übergang oder Zwischenraum übersetzt werden. Menschen aller Kulturen machen beständig Bardo-Erfahrungen: Es sind Gelegenheiten eines Erwachens, z.B. nach dem Schlafen. Ihm entnehme ich das heutige Fundstück:

Wenn das Würfelspiel meines Lebens zu Ende ist,
Die Verwandten in dieser Welt mir nicht helfen.
Wenn ich ganz allein im Bardo wandere.
O ihr friedlichen und zornigen Sieger, übt die Macht eurer Barmherzigkeit,
Auf dass das Dunkel der Unwissenheit zerstreut werde.

Das Bardot Thödol enthält die umfangreichste Beschreibung der subjektiven, inneren Erfahrungen während vielerlei Stufen eines Sterbeprozesses. So werden in der ersten Stufe innere Bilder erlebt: „trugbildartige Erscheinungen“, eine Art flimmerndes, fließendes Licht, wie eine Fata Morgana in der Wüste. Diese inneren Übergangserfahrungen gehen mit äußeren Veränderungen einher: der Körper verliert seine physische Kraft, er wird schwer und es fühlt sich so an, als würde er versinken. Später erscheinen subjektive Visionen von Göttern, und alle sind mit hellen Lichtern und Farben begleitet. Was gesehen wird sind die Bilder der eigenen Seele. Diese visionären Phänomene sollen als Projektionen des eigenen Bewusstseins erkannt werden. Die Bilder in unserem Inneren erscheinen im Tod als äußere Welt.

Der englische Neurologe Dr. Peter Fenwick erforscht seit Langem die Kunst des Sterbens unter Bedingungen heutiger Wissenschaftlichkeit. Auf der Grundlage unzähliger Studien rät er zum lebenslangen Üben einer Kultur des Loslassens. Im Sterben muss man alles, was das Leben ausgemacht hat, möglichst angstfrei hinter sich lassen können. Frei, freudvoll und neugierig – so gelingt seiner Meinung nach ein rechtes Sterben. Neugierde dämpft oder beseitigt sogar die Angst.

Wenn das Loslassen nicht gelingt, bleibt man gebunden. Und diese Gebundenheit kann das Sterben sehr schwer machen und wird als physische und spirituelle Unruhe erlebt. Erst wer sich tatsächlich von allem innerlich getrennt hat, kann in den spirituellen Bereich eintreten. Die Studien zeigen: Licht und Transformation – das sind Phänomene, die in Todesnähe häufig erlebt werden.

Die Anweisung lautet: Loslassen der Visionen, Hindurchgehen durch die Projektionen! Dann wird es am Schluss möglich, in das spirituelle, absolute Ur-Licht einzugehen. Dazu nochmal aus dem Bardo Thödol: „Fürchte nicht das herrliche, leuchtend hellgrüne Licht, sondern erkenne es als Strahlung deines eigenen Bewusstseins.”

M.S.

 

Hier geht es zum vorangegangenen Beitrag.

Hier geht es zur Webseite des Arbeitskreises Glaube und Naturwissenschaft.

Schreiben Sie einen Kommentar