Wenn uns etwas aufregt, ist es gut, wenn wir uns auch mal Luft machen können. In einem grundsätzlich wertschätzenden Geist und mit dem Wunsch miteinander auszukommen, kann ein Streit wie ein klärendes Gewitter sein, wonach die Natur reingewaschen ist und der Himmel umso blauer scheint. – Wenn sich jedoch unerfüllte Bedürfnisse, versteckte Vorwürfe, Verletzungen und Ressentiments angesammelt haben, wenn wir uns, wie man sagt, nicht gut sind, dann wird die Lunte an ein Pulverfass gelegt. Das wäre etwas ganz anderes, wovon hier aber nicht die Rede sein soll. Doch auch wer sich „nur“ Luft macht, erzielt ganz unterschiedliche Wirkung, von „schnell wieder vergessen“ bis zum weit reichenden geschichtlichen Ereignis: Die Tempelreinigung durch Jesus lässt sich vielleicht so lesen und auch Luthers 95 Thesen.
Mein Fundstück heute ist weniger geschichtsträchtig. Aber ich finde es doch interessant im Zusammenhang mit den Fragen unseres Arbeitskreises. In einem Artikel der Sorte, sich Luft zu machen, schreibt die Theologin Dr. Katarína Kristinová im Deutschen Pfarrerblatt, Ausgabe 3/2024: „…unreflektiert erfolgt auch der Großteil der Vermittlung von Glaubensinhalten: ein braves Nachsprechen bestimmter Standardaussagen ohne einen Funken der Irritation über die Unvereinbarkeit der konservierten Sprache des christlichen Glaubens und der Gedankenwelt des modernen Menschen.“ Hier wendet sich eine Theologin an die eigene Zunft: Das muss besser gehen mit der Vermittlung von Glaubensinhalten, wenn sie in der Gedankenwelt eines modernen Menschen verankert werden sollen! Die Glaubensinhalte, das wird deutlich, sind hoch geschätzt und geliebt, so dass der Streit um ihretwillen lohnt. Allerdings: In der Bereitschaft des modernen Menschen, sich Glaubensinhalte vermitteln zu lassen, sehe ich die größere Schwierigkeit.
Vor dieser Schwierigkeit stand auch der damals erst 31-jährige Theologe Friedrich Schleiermacher. Er wandte sich 1799 in fünf Reden „Über die Religion“ direkt an die damals modernen Mitmenschen und sprach in ihre Gedankenwelt hinein von seinem Verständnis von Religion. Seine Adressaten nannte er: „Die Gebildeten unter ihren [der Religion] Verächtern“. In der ersten Rede bittet er sie, ihre Vorurteile darüber, was Religion sei, beiseite zu legen, und um Gehör, ihnen darlegen zu dürfen, was wahre Religion ist, damit sie Teil der ansonsten unvollständigen Bildung des Menschen werden kann. In der zweiten Rede stellt er die Religion neben die reine (Wissen/Spekulation) und praktische (Moral) Vernunft als einen dritten, ganz eigenständigen Bildungsbereich des Menschen: „Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.“
Ich halte diese Reden für ein Meisterstück eines Vermittlungsversuchs, wie er vielleicht auch Frau Kristinová vorschwebt. Freilich ist er zeitgebunden: Schleiermacher packt seine Hörer beim Bildungsideal eines „ganzen Menschen“, das uns heute problematisch erscheinen wird. Die Welt heutiger gebildeter Menschen enthält eine Fülle naturwissenschaftlicher, technischer, wirtschaftlicher, psychologischer, soziologischer… Gedanken. Und die Glaubensinhalte sind theologisch, das heißt heute auch sprach- und literaturwissenschaftlich, historisch-kritisch, hermeneutisch, systematisch… wieder und wieder reflektiert. So ist weder „die Gedankenwelt des modernen Menschen“ noch sind „die Glaubensinhalte“ klar fassbar. Wie soll da Vermittlung gehen?
Vielleicht müssen Gedanken und Glauben nicht „richtig“ sein, weil sie sonst falsch wären. Vielleicht lässt sich in der Vielfalt des Gedachten und Geglaubten ein Reichtum an Aspekten und Facetten erkennen, denen zu begegnen spannend und sogar beglückend sein kann. Vielleicht ist heute Vermittlung ein unbegrenzt vielfältiges Gespräch, weil niemand die Wahrheit hat, aber alle zu ihr beitragen können. Und wenn uns dabei etwas aufregt? Dann machen wir uns Luft!
W.D.
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