Geglaubte Zeit: Unsere Zeit ist uns gewiss ein Freund Fundstück 4

Die Zeit fühlt sie sich für jeden Menschen und von Moment zu Moment anders an, je nachdem, was wir in der Zeit erleben, wie sie gefüllt ist. Man sagt, die Zeit rennt davon, oder sie zieht sich. Manchmal explodiert sie förmlich, wenn alles gleichzeitig über einen hereinbricht. Oder sie hält plötzlich an und steht still. Nichts geht mehr.

Mein Fundstück ist die Geschichte einer Frau, die aus der Zeit gefallen ist, als ihr Mann plötzlich starb. Bis dahin arbeitete sie in einem dynamischen Team, das stets „viele Bälle jonglieren“ musste, um ihr Geschäft am Laufen zu halten. Das war ihre Zeit. Sie war kein gemächlich fließender Strom, eher ein mitunter reißender Fluss mit Untiefen und Strudeln. Als ihr Mann starb fiel sie aus dieser Zeit heraus. Als hätte sie jemand in eine andere Zeit versetzt. Es gab soviel, um das sie sich kümmern musste, so kam sie erst mal nicht zur Ruhe. Das Team hatte großes Verständnis: „Kümmere Dich um Deine Angelegenheiten. Nimm Dir die Zeit, die Du brauchst. Wir werden die Bälle hier schon in der Luft halten.“

Es dauerte ein ganzes Vierteljahr, bis sie zurückkam. Das Team ging, wie man sagt, auf dem Zahnfleisch. Ein Vierteljahr ist eine lange Zeit, wenn man pausenlos zu viel geben muss. Regelrecht ungesund ist das. Keiner hält das lange aus. Nun kam sie zurück. Nur noch der normale Wahnsinn. Doch als sie zurück war merkte sie: „Ich kann nicht!“ Sie wollte wieder arbeiten, doch es ging nur in Zeitlupe. Es sollte schon ein Vierteljahr her sein? Es fühlte sich immer noch an wie gestern. Das Team wurde wütend. Sie haben genug Geduld bewiesen. Irgendwann muss auch mal gut sein. „Du kannst es, Du hast es viele Jahre mit uns gekonnt. Jetzt reiß Dich zusammen und erinnere Dich, wie es ist, hier zu sein. Wir können Dich nicht mehr tragen, nimm Deinen Platz ein!“

Diese Geschichte erzählte mir die Mediatorin, die mit dem Team und der Frau gearbeitet hat. Die Frau lernte, dass das Team in dem Vierteljahr nicht zu Monstern mutiert ist, sondern alles gegeben hat, um die Lücke zu schließen, die sie hinterlassen hat. Das Team lernte, dass die Frau nicht selbstgefällig und faul geworden ist sondern noch sehr viel mehr Zeit brauchen wird,  bis ihr Leben wieder zu einer neuen Normalität findet. Das Team lernte auch, dass es sich überfordert, wenn es weiter versucht, die Helden zu spielen. Und die Geschäftsführung lernte, dass dieses Team für eine Weile einen zusätzlichen Springer braucht.

Ich frage mich: Wenn jemand so ganz aus der Zeit fällt, dass sie still steht, wie kommt sie wieder in Gang? Könnte mir das auch passieren? Selbstverständlich. Niemand sucht sich seine Schicksalsschläge aus. Vielleicht bin ich eine Weile wie betäubt. Die Uhr dreht sich, die Tage kommen und gehen, aber die Zeit steht still. Und dann bemerke ich, dass ich zwar aus der allgemeinen, sozialen Zeit gefallen, aber deshalb nicht zeitlos geworden bin. Ich bin eingewickelt in meine eigene Zeit wie in einen Kokon. Ich kann ihre Anwesenheit förmlich spüren. Und ich frage sie: „Was geschieht hier?“ Und bereits mit dieser Frage beginnt sie, sich zu regen. Statt einer Antwort kommt etwas in Gang. Als führe ein Zug aus dem Bahnhof. Er scheint noch still zu stehen, doch der Bahnhof beginnt sich zu bewegen. Es fühlt sich gut an, sogar wieder ein wenig lebendig. Plötzlich kommt mir eine Frage in den Sinn und ich wende mich nochmal an meine Zeit: „Bist Du mein Freund?“ Ich bin selbst verblüfft über diese Frage, denn ich war so lange wütend auf die Zeit und was sie mir angetan hat. Und zugleich weiß ich mit tiefster Gewissheit die Antwort: „Selbstverständlich. – Darf ich Dir nun Dein Leben zeigen? Keine Sorge, ich mache langsam.“

W. D.

 

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