Zeit in Naturwissenschaft und (religiös gefärbter) Alltagserfahrung Querverbindungen 3

Für die klassische Physik des 17. Jahrhunderts war die Zeit zunächst einfach ein Parameter, entlang dessen sich die Dinge entsprechend bestimmter Gleichungen im Raum bewegen. Einen Unterschied zwischen Zukunft und Vergangenheit gab es nicht. Wenn das die Schöpfungsordnung ist, so weiß jener, der alles begonnen hat, wenn er allwissend ist, auch mit Notwendigkeit, wie alles enden wird. Auch wenn es nie begonnen hätte und nie enden wird, falls die Zeit also unendlich wäre, so wüsste doch ein allwissender Gott was zu jedem Zeitpunkt gewesen ist oder sein wird. Gemessen daran zeigt sich, wie klein der Mensch in seiner Alltagserfahrung ist: Er erinnert nur Weniges und das oft falsch und die Zukunft scheint ihm gänzlich verschlossen.

Im 19. Jahrhundert wurde mit der Thermodynamik der Pfeil in der Zeit entdeckt, der von der Vergangenheit in die Zukunft führt und nicht zurück: Die sogenannte Entropie, die für wachsende Unordnung steht, kann nur entstehen, nicht aber vernichtet werden. So verteilt sich ein Tropfen Tinte in einem Glas Wasser, aber niemals sammelt sich in einem Wasser-Tinte-Gemisch die Tinte zu einem Tropfen. Die Alltagserfahrung wusste das natürlich immer schon, nun hat es die Physik also auch verstanden. Aber ist es auch wahr? Legt man ein Samenkorn der Kresse auf ein feuchtes Löschblatt, so keimt es in kurzer Zeit und wächst in wenigen Tagen zu einem erntereifen Blättchen heran. Wenn der Zufall blind zerstreut, steht dann nicht göttliche Absicht hinter der Fülle geordneter Formen einschließlich des Menschen in der Natur?

Anfang des 20. Jahrhunderts gelang es Albert Einstein mit der speziellen Relativitätstheorie zu erklären, wie es sein kann, dass das Licht, das aus meiner Fahrradleuchte kommt, gleich schnell ist, wie das Licht aus dem Autoscheinwerfer, das 50 km/h schneller als ich an mir vorbeifährt: Für den Autofahrer vergeht die Zeit ein wenig langsamer als für mich und sie ist mit dem dreidimensionalen Raum zu einer vierdimensionalen Raumzeit verbandelt. Die Alltagserfahrung hatte davon keine Ahnung, es macht für sie auch keinen Unterschied. Es nährte aber die Hoffnung, dass verschiedene Dinge am Ende Eins sind. Gibt es schließlich eine Formel für Alles? Eine Weltformel? Oder – es wären dann das Gleiche – eine Gottesformel? Einstein konnte sie nicht finden und auch heute wird noch nach ihr gesucht.

Ebenfalls mit Beginn des 20. Jahrhunderts legte die neu entdeckte, rätselhafte Quantenphysik nahe, dass die Zukunft offen ist. Sie ist nicht wie ein Film, den wir uns ansehen, dessen fest stehendes Ende wir nur noch nicht kennen (wie in der klassischen Physik), sondern der Film wird gerade jetzt gedreht. Aus einer Vielzahl von Möglichkeiten entsteht laufend die aktuelle Realität. Und diese ist ab sofort für alle Zeit in der Vergangenheit eingefroren. Die Alltagserfahrung kennt das, wenn wir vor Entscheidungen stehen, wählen und gelegentlich diese Wahl vor uns oder anderen verantworten müssen. Eine solche Freiheit kann es ohne offene Zukunft nicht geben. Ist der „Raum“ der Möglichkeiten jene Transzendenz in der Gott wohnt, von wo aus er die Welt erschaffen hat und weiter stets begleitet: neu erschafft, erlöst und schließlich vollendet?

Noch neuer ist die Komplexitätsforschung. Die Zeit nimmt in ihr sehr unterschiedliche Qualitäten an: Systeme im Fluss ihrer Zeit  erhalten sich in Homöostase oder driften langsam. Daneben gibt es Zeiten des Umbruchs, in denen sie neue Formen annehmen, emergente Ordnungen zeigen oder Katastrophen des Verfalls erleiden. Für die  Alltagserfahrung sind Veränderungen Ärgernisse, insbesondere, wenn Stabilität und Sicherheit in Wohlstand die Zeit als eine gesegnete erscheinen lässt. Doch wir wissen, dass die Qualität der Zeit unverfügbar ist, es ist Gottes Zeit, in der das Werden des Neuen und das Vergehen des Alten stets Hand in Hand gehen. Und so scheint die fließende Zeit an andern Orten zu anderer Zeit wie verflucht und Umbrüche der Rettung werden ersehnt. Oder es ist, als würde der Segen verspielt, wenn zerrinnt, was nicht zu halten war.

W. D.

 

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