Gegen den gefühlten Zwang wissen zu müssen Impuls 10

Das 20. Jahrhundert hat neben unermesslichem Leid und unbeschreiblichen Verbrechen auch eine Fülle von technischen Neuerungen hervorgebracht, die den meisten von uns inzwischen zur Selbstverständlichkeit geworden sind. Man denke an irgendeinen täglich benutzten Apparat – die elektrische Beleuchtung, das Auto, den Computer oder an irgendeine Einrichtung – den Kühlschrank, die Eisenbahn, das Kino – alles das sind Errungenschaften des 20. Jahrhunderts. In unvorstellbarer Weise haben Physik und Chemie das Leben in großen Teilen der Erde umgestaltet. Im Zuge dieser Entwicklung hat sich die Wahnidee verbreitet, dass wir alles wüssten oder zumindest wissen könnten oder wissen werden. Das ist ein gefährlicher Gedanke, der uns auf ein falsches Gleis schiebt. Wir leben in einer durch Wissenschaften bestimmten Zeit, aber unser Denken ist rückständig und unwissenschaftlich. Das wird dadurch deutlich, dass wir häufig Behauptungen über Dinge aufstellen, über die wir eigentlich nichts wissen. “Wenn wir alles ansehen”, schreibt Richard Feynman (Nobelpreis Physik 1965) in seinem Buch ‘The Pleasure of Finding Things Out’, “nicht nur das, was die Alten wussten, sondern auch das, was wir wissen, dann müssen wir freimütig zugeben, dass wir nichts wissen.” Jedes wissenschaftliche Ergebnis hat Zweifel an seiner Seite, die nicht verdrängt werden dürfen, sondern das Ergebnis erst gültig machen. Es ist nicht nur nötig, sondern auch möglich, mit Nichtwissen und Zweifeln zu leben, auch wenn wir das heute kaum noch wahrhaben wollen oder können!

Dies gilt vor allem auch im Menschlichen. Wohl ist es eine Haltung des Glaubens, sich vertrauensvoll dem Mitmenschen zu öffnen, aber “der Hochmut des absolut Wahren ist die eigentlich vernichtende Gefahr für die Wahrheit in der Welt”, schreibt Karl Jaspers in seiner Einführung in die Philosophie und: “Der Mensch vermag die Last des kritischen Nichtwissens … nicht immer zu tragen. Er möchte das Letzte bestimmt wissen.” Als Einstein in einer Diskussion ausführte, wie die Wirklichkeit nach seiner Überzeugung ganz bestimmt nicht beschaffen sein könne, hat ihn Niels Bohr gebeten, er möge doch bitte aufhören, Gott Vorschriften zu machen.

Die Arroganz zu meinen, bereits im Besitz unumstößlicher Wahrheit zu sein, führt dann gänzlich in die Irre, wenn die Existenz dessen, was nicht nur unbekannt, sondern auch dieser Wahrheit fremd ist, schlicht geleugnet wird. Für viele Menschen der heutigen Zeit ist es einfach unerträglich, mit Informationen zu leben, die den Bruchstücken, die sie zu kennen meinen, ins Gesicht schlagen. Dadurch leben sie in einer selbst verordneten Blindheit. Aber es wäre heilsam, sich daran zu gewöhnen, dass die Wirklichkeit weitaus umfassender als unsere Vorstellung von ihr ist.

Glaube könnte bedeuten, sich der Wirklichkeit trotz ihrer Unerkennbarkeit und Fremdheit anzuvertrauen. Glaube führt auch zu der Ahnung, dass wir in einem Zusammenhang stehen, der unser gegenwärtiges irdisches Leben in Raum und Zeit und unser Bewusstsein davon in jeder denkbaren und nicht mehr denkbaren Weise überschreitet. Was auch geschehen mag, wir dürfen uns als Mitglied dieser Vertrauensgemeinschaft geborgen und geschützt fühlen, ohne das Kleingedruckte lesen zu können.

K.B.

 

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