Friedrich Schiller: Enge Welt, weite Gedanken Fundstück 5

„Die sind so engstirnig“ echauffierte sich kürzlich ein Bekannter über einige Impfgegner, die trotz 4. Corona-Welle und 2G+ Regel entschlossen sind, sich nicht impfen zu lassen. Wer nur einen Gedanken hat und keine anderen zulassen kann, den darf man wohl engstirnig nennen. Freilich ist eine solche Engstirnigkeit nicht auf Impfgegner beschränkt. Eine Meinung wird zu einer festen Position, indem sie neben den Gründen, die dafür sprechen auch jene prüft, die ihr entgegenstehen. Sie kann sich aber auch verfestigen, weil nur bestätigende Aussagen ernst und für wahr genommen werden. In letzterem Fall sprechen Kognitionspsychologen von einem „Bestätigungs-Bias“ (ein Bias ist eine Wahrnehmungsverzerrung). Der Internet-Volksmund nennt das „Filterblase“. Doch kann sich auf diese Weise jede Meinung verfestigen und eng werden. Davor ist selbst Religion nicht gefeit, Stichwort religiöser Fanatismus.

Ich stelle mir lieber die überbordende Fülle der Gedanken aller Menschen vor, freue mich über Meinungsfreiheit und Toleranz. Im Ohr klingt das Lied „Die Gedanken sind frei…“ und erinnert an die Freiheitskämpfe im 19. Jh. Heute verfolgt die Polizei verbotene Taten, keine Gesinnungen per se. Es ist unglaublich, was die menschliche Fantasie an Möglichkeiten durchspielen kann. „Was wäre wenn…“ Das funktioniert sogar, wenn das „Wenn“ unmöglich ist, wie z.B. Zeitreisen. Romane, Science Fiction, Fantasy, Filme und Serien – die Welt der Gedanken offenbart ein weites Feld. Man kann ganz vernarrt sein in die Weiten von Geschichten und sich von thrill zu thrill, von happy end zu happy end und was einen sonst zu sehen beliebt zappen.

Friedrich Schiller legt in Wallensteins Tod seinem Wallenstein mein heutiges Fundstück in den Mund:
„Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit.
Leicht beieinander wohnen die Gedanken,
Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen“

Meinem Bekannten erscheint dieses Zitat unzeitgemäß. Es mag für Schiller gegolten haben: Eine noch weitgehend unverstandene, widerborstige Natur, ein enges Korsett gesellschaftlicher Konventionen durchgesetzt von Monarchie und Klerus. Und da hinein brachte die Renaissance frische Luft und die Aufklärung wehte die Idee von Autonomie und Freiheit in jeden Geist, der sich dafür öffnete. Doch heute habe sich die Situation umgekehrt: Die Wissenschaften weiten die Welt Horizont um Horizont, während es die Menschen immer einfacher und bequemer haben wollen und ablehnen, was nicht in ihre enge Denk-Komfortzone passt. „Die sind so engstirnig“…

Und doch, so erwidere ich, gibt die Corona-Erfahrung Schiller recht: Die Gründe, warum sich jemand auf jeden Fall, wenn’s sein muss, vielleicht, unter Protest, nicht, auf gar keinen Fall impfen lässt, sind beliebig vielfältig. Sie enthalten eine bunte Mischung aus echten und falschen Informationen, Verständnisse und Missverständnisse der Situation, Wertungen, Haltungen und Rücksichtnahmen auf dieses und jenes. So weit sind die Gehirne. All das kann in Gedanken leicht beieinander wohnen, ohne sich auch nur ein Knie blutig zu stoßen. – Allerdings spielt nichts davon die geringste Rolle, wenn das Virus übertragen wurde, sich vermehrt und den Tanz mit dem vorgefundenen Immunsystem des Wirts beginnt, von dem mancher Wirt nichts mitbekommt, einige daran sterben und dazwischen die Symptome von Halsschmerzen bis zur Beatmungsnotwendigkeit reichen, einschließlich langfristiger Schäden. Auch hier also eine große Bandbreite. Doch sie alle sind von der Art „hart im Raume stoßen sich die Sachen“, nur mal mehr, mal weniger hart. In dieser engen Welt hat die Impfung nur einen engen Zweck: Möglichst viel „weniger hart“.

W. D.

 

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2 Gedanken zu „<span class="entry-title-primary">Friedrich Schiller: Enge Welt, weite Gedanken</span> <span class="entry-subtitle">Fundstück 5</span>“

  1. Lieber Winfried, danke für Deinen klaren Beitrag zur heute um sich greifenden Engstirnigkeit.

    Dazu noch eine Anmerkung: Zu dieser Engstirnigkeit mag der Wunsch, das Bedürfnis, das Gebot moralischen Handelns, Sprechens und Denkens (!) beitragen. Das 20. Jahrhundert brachte kaum vorstellbare Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wozu unser Land im Großen beigetragen hat. Die moderne Wachstumswirtschaft beutet Menschen und Völker, die Naturgüter in unumkehrbarer, nicht durchhaltbarer Weise aus. Das führt bei vielen ethik- und moralbewussten Menschen, Gruppierungen zu einem Schuldbewusstsein – dessen Last man durch rigorose Moralität im Handeln, Sprechen und Denken zu mildern sucht. Das führt dann u. a. zu der heute oft zitierten “Cancel Culture” – auf Deutsch: kämpferischen Engstirnigkeit .

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    • Statt der üblichen moralischen Frage darüber, was zu tun sei (und was, falls es dem eigenen Urteil nach falsch ist, gecancelt gehört) habe ich mir eher kontemplativ die Frage gestellt: “Was geschieht hier eigentlich?” In dem Gespräch mit meinem Bekannten fiel mir auf, dass Enge und Weite ganz unterschiedlich zugeordnet werden können.

      Zu Deiner Anmerkung zur Dynamik von moralischem Handeln unter Schuld-Druck denke ich an den Schlussteil eines Interviews mit der Autorin und Richterin Juli Zeh in der aktuellen ZEIT (Nr. 2, 2022). Zunächst geht es um einen Teufelskreis aus Politik, Zivilgesellschaft, Medien und Big-Tech-Plattformen. In ihm wird zwar moralischer Druck ausgeübt, aber im Ergebnis erodiert das moralische Fundament der Gesellschaft. Dann sagt sie zur Lösung:

      “Wir werden über kurz oder lang an den Punkt kommen, wo wir als Gesellschaft sagen: Sich an einem Shitstorm zu beteiligen ist uncool. Das ist peinlich. Du kannst das natürlich machen, aber mal echt… Die lagerübergreifende Mehrheit müsste einfach lachen über die, die versuchen, andere mit Diffamierungen mundtot zu machen.“ Das würde den Teufelskreis brechen. Ob das nicht eine etwas hohe Hoffnung sei? Findet Frau Zeh nicht, denn: “Wir sind doch alle besser als diese Fast-Food-Moral. Klüger, höflicher, gesitteter, interessierter. Wir wissen genau, dass wir allein nichts erreichen können und auf ein gutes Miteinander angewiesen sind. Das Niveau, das wir im Moment häufig erleben, ist doch in Wahrheit oft ein künstlich niedriges. Sobald wir die moralische Selbstverzwergung satthaben, braucht die Aufmerksamkeitsökonomie ein neues Geschäftsmodell.”

      Ich denke tatsächlich, dass wir uns zu leicht dazu verführen lassen, schlecht von Mitmenschen zu denken. Natürlich sind wir alle keine Engel, aber eben auch nicht so schlecht, wie wir uns zu schnell erlauben anzunehmen.

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