Das „Jenseits“ der Quantenphysik Impuls 3

Wenn zwei Bereiche durch irgendetwas getrennt sind, durch eine Grenze, einen Fluss, ein Gebirge, dann bezeichnen wir diese Bereiche mit „diesseits“ und „jenseits“. Jenseits der Grenze beginnt ein anderes Land oder jenseits des Gebirges ist anderes Wetter. Wenn wir „das Jenseits“ sagen, dann meinen wir in diesem Text einen Bereich, der jenseits unserer bekannten Welt gedacht wird, also dort, wo die uns bekannten Merkmale des Seins nicht gelten, wo es insbesondere keinen Raum und keine Zeit, keine Substanz und keine Form gibt. So ein Bereich ist unvorstellbar.

Nun hat ausgerechnet die Physik, die sich doch mit der sinnlich wahrnehmbaren Welt befasst, festgestellt, dass es einen solchen Bereich jenseits der uns sichtbar umgebenden Welt wirklich gibt: Man kann ihn nicht direkt beobachten, spürt aber seine Wirkungen. Man kann z.B. feststellen, dass Teile der uns bekannten Welt so miteinander verbunden sind, als wären sie ein und dasselbe Teil. Man sagt, diese Teile seien miteinander verschränkt.

Die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte Quantenphysik bewirkt eine „ontologische Revolution“ also eine grundlegende Neuorientierung in Bezug auf das, was ist. Physikalische Untersuchungen haben zu der Erkenntnis geführt, dass die uns vertraute, sichtbare und tastbare Alltagswelt, in der wir leben, nur eine Seite einer größeren, umgreifenden Wirklichkeit ist. Jenseits der Wahrnehmbarkeit gibt es eine andere Seite – eben das Jenseits – von der aus sich entscheidet, was in der sichtbaren Welt passieren kann und wahrscheinlich passieren wird. In diesem Jenseits sind Zeit und Raum nicht was wir als solche kennen, sondern in unvorstellbarer Weise ist alles ungeteilt eins. H.-J. Fischbeck (Evangelische Aspekte, Heft 4/2018, S. 29-31) spricht von einer Doppelstruktur der Wirklichkeit aus Potentialität und Realität. Die Seite der Potentialität ist nicht direkt beobachtbar, sondern kann nur indirekt durch ihre Wirkungen erschlossen werden. Es gibt „dort“ nur potenzielle Information, also entscheidbare Alternativen (C. F. von Weizsäcker). Und diese Roh-Information bestimmt, was in unserer diesseitigen Welt geschehen kann und was nicht, welche tatsächliche Information sich also manifestieren kann, welche Form Energie und Materie in der Realität annehmen kann. Die mathematische Beschreibung der Quantenphysik sagt nichts darüber, was genau passiert oder wie etwas zustande kommt. Wir wissen vom Jenseits, dass es dieses auf eine seltsame, unvorstellbare Weise gibt, aber nicht viel mehr. Es ist also Vorsicht geboten: Jede weitergehende, womöglich geistliche Behauptung ist entweder ein Glaubenssatz oder reine Spekulation! Deshalb muss es auch – bei aller Nähe der Begriffe – keinen Bezug zwischen diesem Jenseits und dem geben, was es an philosophischen und theologischen Gedanken oder Lehren zum Begriff der Transzendenz gibt. Möglicherweise handelt es sich, wie bei uns Menschen so oft, um die Projektion von Wunschvorstellungen auf eine sich anbietende, leere Leinwand.

Wenn nun der Begriff „Jenseits“ oder Potenzialität dieses sonderbare Sein bezeichnet, das jenseits der vorstellbaren Welt ist, jenseits von Zeit und Raum, dann hat die Physik also entdeckt, dass es dieses Jenseits auf eine merkwürdige Weise geben muss und dass unsere gewohnte, sichtbare Realität nicht ohne diese Seite der Wirklichkeit Bestand haben kann. Der Gedanke an diese ontologische Revolution erzeugt leicht ein Schwindelgefühl. Denn der feste Boden des klaren Wissens in Übereinstimmung mit unseren Vorstellungen wird uns unter den Füßen weggezogen. Viele Zeitgenossen halten eine solche Erweiterung unserer Realität zu einer umfassenderen Wirklichkeit nicht gut aus. Hartgesottene Materialisten behaupten z.B. unbeirrbar, dass die Wirklichkeit nur aus dem besteht, was wir messend beobachten können und aus nichts sonst. Doch dieser Blick auf die Wirklichkeit hat sich als zu eng erwiesen.

Der Rest von uns ahnt, um mit Shakespeares Hamlet zu sprechen: „Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.“ Es gibt Berichte über Gotteserkenntnisse von Mystikern, es gibt eine Vielzahl übersinnlicher oder jedenfalls auf der Grundlage der klassischen Physik nicht erklärbarer Phänomene, z.B. Vorauswissen, Fernwahrnehmungen oder todesnahe Visionen. Die neue Weltsicht mit ihrem Jenseits kann uns nicht dabei helfen, solche „Öffnungen“ unserer Raumzeitwelt zu erklären, aber wir können und dürfen sie nun zur Kenntnis nehmen. Stets muss man sich dessen bewusst sein, dass über diese Dinge nichts weiter bekannt ist, als dass sie möglicherweise tatsächlich glaubhaft berichtet werden – daran ändert auch die ontologische Revolution der Quantenphysik nichts. Und doch sollte diese Revolution etwas am Menschen ändern: Ihn bescheidener machen. Er wird gehindert, Urteile zu fällen über Zusammenhänge, über die nichts bekannt ist. Die alles erklärende (und anderes ausschließende) Anmaßung der klassischen Physik ist gebrochen.

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8 Gedanken zu „<span class="entry-title-primary">Das „Jenseits“ der Quantenphysik</span> <span class="entry-subtitle">Impuls 3</span>“

  1. Kommentar zum Blog https://www.ev-akademiker.de/das-jenseits-der-quantenphysik/

    Bevor man die Frage angeht, was “ist”, sollte man das zu untersuchende System charakterisieren: Aus wievielen Elementen besteht es, welche Bewegungsfreiheitsgrade stehen zur Verfügung, welchen Randbedingungen unterliegt das System, ist es abgeschlossen oder kann es mit seiner Umgebung Stoffe, Energie, Impuls, Ladung austauschen? Im Rahmen dieser Charakterisierung stelle man fest, welchen Erhaltungsätzen unterliegt das System. Alles bezieht sich jeweils auf die präparierte Versuchsanordnung. Diese Charakterisierung setzt den Rahmen des Möglichen, der Potentialität.

    Wie man das, was in diesem Rahmen geschieht, ermitteln und beschreiben kann, hängt von der Größenskala ab: Im Bereich makroskopischer Elemente greifen die Mechanik, Elektrodynamik und Thermodynamik, im molekularen und atomaren Bereich greift die Quantenmechanik. Treten Geschwindigkeiten nahe der Vakuum-Lichtgeschwindigkeit auf, kommt die Relativitätstheorie als theoretisches Werkzeug hinzu.

    Aufgabe der physikalischen Erfassung bzw. Beschreibung ist es, das System darauf zu untersuchen, ob Widersprüche auftreten und ob die aus der Beschreibung abgeleiteten Vorhersagen auch beobachtet werden. Im Falle von Widersprüchen oder/und nicht vorhergesagtem Verhalten, muss man die Untersuchung wiederholen oder ausweiten.

    Bezüglich des Verhaltens einzelner molekularer und atomarer Elemente kann die Qantenmechanik grundsätzlich nur Wahrscheinlichkeitsaussagen machen. Wollte man einzelne dieser Elemente messend verfolgen, greift man unvermeidlich in das System ein, sodass ein unbeeinflusstes Verhalten molekularer oder atomarer Elemente grundsätzlich nicht zu ermitteln ist.

    Abgeleitet aus den Erfahrungen mit makroskopischen Objekten kann man nun überlegen, wie sich unbeeinflusste molekulare oder atomare Elemente wohl verhalten. Solche Überlegungen bewegen sich in einem gedanklichen, geistigen Jenseits der etablierten Physik.

    Rudolf Ahrens-Botzong, 9/1/2021

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    • Wenn ich Sie richtig verstehe, verweisen Sie in Ihrem Kommentar auf die Metaphysik als auch eine Art von “Jenseits” der Physik. Physik beschreibt – in so einfachen Begriffen wie möglich – die in ihren Versuchsanordnungen vorgefundenen Erscheinungen. Das gibt solange kein Problem mit der Metaphysik, wie man sich die Dinge, die “Seienden” hinter den Erscheinungen, gut vorstellen kann. Ich werfe einen Stein, er fällt in einer Kurve zu Boden. Massepunkte, auf die Kräfte wirken und die sich dementsprechend bewegen, können wir uns gut vorstellen. Zunächst ist “Kraft” nur einer der physikalischen Fachbegriffe, die verwendet werden, um den sich zeigenden Bogen zu erklären. Die Vorstellung, dass es so etwas wie Kraft tatsächlich gibt, ist metaphysisch – niemand hat je eine “Kraft” gesehen. Es mag etwas naiv sein, aber wir haben uns daran gewöhnt, dass es das, wovon die Physik spricht, tatsächlich gibt.
      Wenn man in dieser Form versucht, über die Quantenmechanik nachzudenken, wird es aber äußerst merkwürdig: Es scheint nicht vorstellbar zu sein, wie ein Sein beschaffen sein könnte, das sich in den quantenmechanischen Erscheinungen zeigt. Auch wenn diese Frage nicht mehr physikalisch, sondern metaphysisch ist, kann man sich von ihr erstaunen lassen. Denn wer könnte bei dem Schluss stehenbleiben: “Das was sich zeigt, ist nichts, was es in einer sinnvoll denkbaren Weise gibt.”?
      Der Beitrag sollte, ohne Bezug auf die zahlreichen Bücher, die es zu dem Thema von staubtrocken bis esoterisch blumig gibt, einen Eindruck von diesem Zusammenhang vermitteln.

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  2. Wir sind nun am Punkt des “Seins an sich”, den platonischen Ideen angekommen
    (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Ideenlehre ). Die Seele soll von den wahrgenommenen Erscheinungen aufsteigen zur Schau des Seienden.

    Als Kinder des 20. Jahrhunderts liegen in unserem “Lebens-Werkzeugkasten” nicht nur die Methoden der Physik sondern auch jene der Psychologie und Neurologie. Dabei rückte eine Urfrage wieder ins Blickfeld: “Was sind wir?” Die philosophische Frage “Was können wir wissen?” wird somit zu “Was leistet unser Nervensystem?”

    Durch Zufall fand ich heute im Internet eine Buchrezension: Donald D. Hoffmann, “Relativ real”, dtv Verlag, 2020 .

    Aus der Rezension: “. . . zeigt, dass und warum wir Menschen »die objektive Realität« gar nicht wahrnehmen oder beschreiben können. Stattdessen sind wir, wie auch alle anderen Lebewesen, im Laufe der Evolution so ausgestattet worden, dass unsere Sinne uns optimal informieren, wie die uns umgebende Welt unsere Fitness erhöhen oder verringern kann.”

    ( Siehe https://www.spektrum.de/rezension/buchkritik-zu-relativ-real/1808402?utm_term=Autofeed&utm_medium=Social&utm_source=Twitter#Echobox=1611450082 )

    Ich möchte, kann das nicht bewerten. Vielleicht sollten wir unsere Erkenntnisansprüche etwas zurücknehmen. Aus persönlicher, nun religiöser Sicht verändert sich die Frage erneut zu “Wer sind wir?” Weder die Physik noch die Psychologie werden uns darauf antworten. So bleibt uns nur die metaphysische Hoffnung: Unsere Zeugung habe uns einen unveräußerlichen, unverlierbaren Wert verliehen. Seien wir seiner würdig im Leben.

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  3. Als ich den Kommentar vom 11.1.21 las, hatte ich den Eindruck, dass Sachverhalte mit völlig unangemessenen Kategorien behandelt werden – so, als würde man ein Gemälde mit den Mitteln der Chemie untersuchen. Im Kommentar vom 24.1.21 ist dann von platonischen Ideen die Rede, “die Seele soll aufsteigen … zur Schau des Seienden” – hochromantisch, blumig und nichtssagend. Es ist nicht leicht, durch die Interpretamente hindurch die Wirklichkeit zu sehen und es gibt auch starke Gründe, es nicht zu tun. Vielleicht sollte man sich von der Vorstellung eines objektiv vorhadenen Sachverhalts verabschieden und die Wahrheitsfrage existentiell entscheiden. Für alle, die ihre Zugehörigkeit zum Sein bejahen, sind dann die weiteren Probleme weniger bedeutungsvoll.

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    • Ich kann Ihren Einwand gut verstehen. In einem iterativen Diskurs kann der Faden schon mal verloren gehen; da bitte ich um Nachsicht. In einem weiteren Kommentar werde ich die logische Stringenz wieder herstellen. Hier schon vorab:
      Mir geht es darum zu zeigen, dass es zwischen dem christlichen Glauben und den (Natur-)Wissenschaften keine Konflikte gibt, wenn man das Thema dichotomisch angeht.

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  4. Mir scheinen sich die Kommentare nun deutlich von dem zu kommentierenden Beitrag zu entfernen und ins Grundsätzliche des AK-Themas insgesamt überzugehen.
    Ich schlage vor, diese Überlegungen im Forum fortzusetzen.
    Hier sind natürlich weiterhin jederzeit Fragen oder Anmerkungen etc. direkt zum Beitrag willkommen!

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  5. Als Naturwissenschaftler weiß ich schon, dass es vieles gibt, was makroskopisch nicht greifbar ist und dass wir den Mikrokosmos zwar berechnen und erahnen können. Wir können eben Elektronen nicht lokalisieren oder die Atomkernbestandteile nicht sichtbar machen. Wohl aber existieren sie.
    Nur wo der Anknüpfungspunkt zur Philosophie/Theologie und Glauben liegt, ist mir nicht plausibel.

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    • Wenn Sie Anknüpfungspunkte suchen, werden Sie im Büchermarkt schnell fündig: Zum Stichwort “Quantentheorie und Philosophie” gibt es lt. Amazon “mehr als 1.000 Titel”, zum Stichwort “Quantentheorie und Theologie” immerhin noch 128.
      Als Anknüpfungspunkte innerhalb der EAiD wären vier Quellen zu nennen:
      – Der im Artikel zitierte Beitrag in den Aspekten von H.-J. Fischbeck
      – In den neuesten Aspekten zum Thema Gesundheit steht ebenfalls ein Artikel zur Quantentheorie von M. Grün
      – Auf der Webseite des Arbeitskreises “Kernfragen des Glaubens – Gottesbild heute” findet sich eine Stellungnahme zu J. Polkinghorne “Glaube im Zeitalter der Wissenschaft”
      – Ebenfalls dort gibt es einen Link zur Online-Plattform des AK. Von insgesamt 15 Kernfragen des Glaubens beschäftigt sich die 5. Kernfrage mit “Religion und Naturwissenschaft im Licht der modernen Physik”, nachdem vorher in der 3. Kernfrage “Glauben und Wissen” und in der 4. “Naturwissenschaft und Glaube” behandelt wurde.
      Nicht zuletzt gab es im Forum (siehe rechte Randspalte) eine lebhafte Diskussion in inzwischen drei Fäden (zu diesem Beitrag, zur Potenzialität und zur Seele), die gerne wieder aufleben dürfen.

      Wollte ich die Anknüpfungen auf einen Punkt zusammenfassen, so handelt es sich philosophisch um die Frage: “Wie ist es möglich, dass etwas möglich ist?” Wie nahe diese Frage an einem Widerspruch liegt, zeigt die Form: “Es gibt etwas, das es nicht gibt.” Bei den Hörnern packt dieses Problem die Modallogik (103 Titel zu diesem Stichwort). Theologisch fasziniert offenbar die Frage, was jener Raum des Möglichen, die “Potenzialität”, mit der seit Menschengedenken erahnten, religiösen Transzendenz (99 Titel, nur Transzendenz: 979 Titel) zu tun hat. Die Nähe des philosophischen Problems zum bekannten Bonhoeffer-Zitat: “Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.” ist offensichtlich. Die Übersetzung des Gottesnamen in der Geschichte vom brennenden Dornbusch (Ex 3,14): “Ich bin, der ich sein werde.” weist in die gleiche Richtung, denn das, was in Zukunft sein wird, ist heute noch nicht, sondern eben “nur” möglich.

      Vor dem Hintergrund einer ganzen Literatur, die diesen Zusammenhang nun für wissenschaftlich bewiesen hält, Gott als naturwissenschaftlichen Gegenstand betrachtet und erklärt, wie sich dieser Gott für eigene Zwecke instrumentalisieren lässt, zeigt sich unser Beitrag in diesem Punkt reserviert. Zumindest würde ich nicht wollen, dass zukünftige Quantencomputer als Gottesmaschinen überhöht werden. Für die einen ist das der nächste evolutionäre Sprung des Menschen, für die anderen esoterischer Quatsch.

      Wie plausibel einem der Anknüpfungspunkt erscheint, muss wohl jeder für sich selber entscheiden. Immerhin haben wir die Wahl 🙂 .

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