Der vorletzte Impuls in diesem Blog über Das Geheimnis des Lebendig-Seins ließ uns staunen über die Vorgänge in der Natur. Und er zeigte, wie naturwissenschaftliches Erforschen dieses Staunen nicht verringert, sondern ins Unermessliche steigern kann. So haben wir allen Grund, dankbar zu sein – dafür, an diesem Wunder des Lebens teilzuhaben, schlicht indem wir sind, was wir sind – noch bevor es darum geht, wer wir sind.
Doch dieses Wunder ist nicht ohne Widerspruch. Denn wir leiden auch an ihm: an Krankheit, Alter, Tod. Wir nehmen das Gelungene oft als selbstverständlich hin und klagen über das, was fehlt. Wir wissen so viel – und doch wuchern Krebsgeschwüre, töten Viren und Parasiten ihre Wirte, greifen Autoimmunreaktionen den eigenen Körper an. Wir sehen die Schönheit des Lebens – und seine Zerbrechlichkeit.
In religiöser Praxis spiegeln sich diese Erfahrungen im Gebet: Wir danken für das Geschenk des Lebens, wir klagen über unser Leid, wir bitten um das, was wir vermissen. Aber an wen richtet sich ein solches Gebet, wenn jemand keinen Gott mehr gelten lässt? Denn selbst dort, wo kein Glaube mehr ist, bleibt oft ein Bedürfnis: nach Gerechtigkeit, nach Sinn, nach Antwort. Und vielleicht sogar nach Trost.
Der Natur – kalt, unpersönlich, ungerichtet – kann man schwer danken, bei ihr klagen oder an sie appellieren. Es bedarf eines Ohrs, an das man sich wenden kann. Nicht unbedingt eines göttlichen – aber eines, das hört.
Für Gläubige ist dieses Ohr Gott selbst: Schöpfer, Bewahrer, Vollender. Eine Kraft im Hintergrund, die trägt, heilt und zurechtrückt. Was manchen naiv erscheint, ist für andere Gewissheit: Getragen zu sein – unabhängig davon, was geschieht.
Gibt es also zwei Arten von Menschen – jene mit dieser Intuition Gottes, und jene ohne? Ist der Glaube eine Illusion, die von der Wirklichkeit entfremdet, oder ist es der Unglaube, der den Zugang zu einer tieferen Wahrheit verwehrt?
Eine objektive Wahrheit über Gott ist nicht zu haben, zumindest keine, die für alle in gleicher Weise gelten könnte. Doch vielleicht kommt es auf eine andere Art von Wahrheit an. Der spanische Philosoph Julián Marías spricht in Reason and Life von einem „Leben in der Domäne der Wahrheit“. Gemeint ist ein Leben, das auf wahrhaftigen Überzeugungen ruht, auf denen ein Mensch seine Existenz aufbaut – im Kontrast zu einem Leben im „Anschein von Wahrheit“, das sich in Aufgaben, Ablenkungen oder Erfolg verliert.
Diese Idee von Wahrheit geht über das hinaus, was sich messen und beweisen lässt. Sie ist persönlich, existenziell, menschlich. Und gerade deshalb bietet sie einen möglichen gemeinsamen Boden: dass jeder Mensch auf seine Weise ernst macht mit dem, was er als wahr erkennt – und keinem Konformitätsdruck folgt, der ihn davon abbringt.
Vielleicht liegt darin eine tiefe Gemeinsamkeit: Dass wir – gläubig oder säkular – in unserem Dank, unserer Klage, unserer Bitte etwas von uns selbst geben. Und dass wir dieses Menschliche nicht gegeneinander ausspielen, sondern es als Ausdruck einer gemeinsamen Sehnsucht verstehen: nach Sinn, nach Verbindung, nach Wahrheit.
WD
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Das ist eine beruhigende Sicht, die Gemeinschaft ermöglicht und bilden kann.
Nun gilt es, Systeme – seien sie religiös oder säkular – einzubinden, die ihre ausformulierte Dogmatik jeweils als allgemeinverbindlich deklarieren. Das wäre möglich, wenn man die Repräsentanten dieser Systeme zur Duldung persönlicher, existenzieller Wahrheiten bewegen kann und zu friedlicher Lösung von daraus folgenden Konflikten.