Chemie und Poesie Fundstücke 9

Was haben Poesie und Chemie gemeinsam? Sie handeln beide von Allem. Jedenfalls entnehme ich das zwei Buchtiteln, die mir untergekommen sind, meine heutigen Fundstücke. Wenn beide von Allem handelten, müssten beide Dasselbe sein. Wir wissen natürlich, dass das nicht so ist. Was könnte also gemeint sein?

Die Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Dr. Mai Thi Nguyen-Kim, die vor allem während der Corona-Zeit mit ihrem YouTube-Kanal maiLab ein breites Publikum erreichte, schrieb bereits zuvor, 2019, ihr erstes Buch: „Komisch, alles chemisch! Handys, Kaffee, Emotionen – wie man mit Chemie wirklich alles erklären kann“. Alles, was es gibt, so die zugrundeliegende Annahme, hat eine direkte oder zumindest ursächlich materielle Basis und diese besteht für alle praktischen Zwecke unseres Lebens aus Elementen und Molekülen (die sich aus Atomen gleicher und verschiedener Elemente zusammensetzen). Und Chemie ist bekanntlich die Wissenschaft, die sich mit den Formen und Umformungen von Atomen und Molekülen befasst. Wem das nicht bekannt ist oder nur von Ferne, für den hat Mai Thi dieses Buch geschrieben. Und weil nicht nur alle Dinge chemisch zusammengesetzt sind, sondern diese Substanzen auch Wirkungen haben, z.B. der im Titel genannte Kaffee oder hormongesteuerte Emotionen ist eben alles chemisch.

Der Dichter Robert Gernhardt hat nicht nur Gedichte, sondern auch Texte zur Poetik geschrieben, die posthum unter dem Titel: „Was das Gedicht alles kann: Alles“ herausgegeben wurden. Wenn Worte Atome wären und Gedichte Moleküle daraus, dann wäre Poetik die Chemie der Gedichte. Bereits zu Lebzeiten erschien „Über alles: Ein Lese- und Bilderbuch“. Hier geht es nicht um alle (materiellen) Dinge, sondern um alle (geistig erfassbaren) Themen. Sie werden verknüpft oder auseinandergehalten, auf ein Podest gehoben oder durch den Kakao gezogen, sie erzeugen Bedeutungen oder geben sie der Lächerlichkeit preis. Anders als chemische Verbindungen, die sich aus nur 80 (stabilen) Elementen zusammensetzen, schöpfen Gedichte aus einer unbegrenzten Zahl von möglichen Themen und Perspektiven. Und so gibt es auch nichts Chemisches, über das sich nicht dichten ließe. In Christian Morgensterns Galgenliedern findet sich z.B.:

Laß die Moleküle rasen,
was sie auch zusammenknobeln!
Laß das Tüfteln, laß das Hobeln,
heilig halte die Ekstasen.

Umgekehrt lässt sich kein Gedicht chemisch herstellen. Stattdessen finden wir in einem Glückskeks einen Zettel mit Worten, die uns etwas bedeuten könnten. Oder wir lesen täglich in den Losungen und bedenken einen Vers der Bibel. Und wieder: unzählige Möglichkeiten. Nur nicht als Pille.

Zur Ehrenrettung von Mai Thi muss ich sagen, dass es ihr nicht darum ging, die Chemie eines Gedichtes zu erklären – ein solches Kapitel fehlt – sondern dem landläufigen Gegensatz von „chemisch“ und „natürlich“ aufklärend zu begegnen: Sind doch alle natürlichen Dinge nicht weniger chemisch als solche aus dem Labor. Und in Laboren können heute aggressive, angeblich natürliche Wirkstoffe wie Kernseife, für Menschen geeigneter gemacht werden. Was sie in den dreizehn Kapiteln des Buches an chemischen Grundlagen vermittelt, kann, ja sollte zur Allgemeinbildung gehören. Nur ist das zum Glück nicht alles.

W.D.

 

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2 Gedanken zu „<span class="entry-title-primary">Chemie und Poesie</span> <span class="entry-subtitle">Fundstücke 9</span>“

  1. Es gibt weitere Gemeinsamkeiten zwischen Stofflichem und Sprachlichem:

    Zum einen die jeweils schier unendliche Vielfalt an Strukturen (z.B. von Makromolekülen, bei Festkörpern) im Stofflichen, an Ausdrucksweisen, Stilen, Literaturgattungen im Sprachlichen. Zum anderen die Möglichkeit von Reaktionen:

    Bringt man reaktionsfähige Stoffe in passender Weise in Kontakt, so kann daraus eine Vielzahl neuer Stoffe entstehen. Legt man zum Diskurs bereiten Personen dezidierte Meinungen vertretende Texte vor, so kann deren Diskurs neue Gedanken und Meinungen hervorbringen.

    Schwierig wird der Vergleich beider Welten jedoch, wenn man deren Grundbausteine betrachtet: Solange man den radioaktiven Zerfall instabiler Atomkerne, die Kernspaltung und -fusion außen vor lässt, haben Atome zeitlich unveränderliche Eigenschaften.

    Wortbedeutungen hingegen ändern sich im Laufe der Sprach- und Kulturentwicklung.
    Es gibt wohl keine stabilen Wortbedeutungen. Hinzu kommen jeweils nicht explizit ausgesprochene Konnotationen. Ein Beispiel dafür:

    Ein Eisenatom (in der Natur zu rund 92 % das stabile Isotop 56Fe ) ist und bleibt ein solches. Was aber bedeutet das Wort Eisen in der historischen Gedichtzeile
    “Der Gott, der Eisen wachsen ließ, wollte keine Knechte.”

    Hier zeigen sich sowohl Macht wie Misere der Kultur im Vergleich zur Natur !

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    • Seit der antiken Philosophie unterscheiden wir zwischen Substanz und Form. Die Chemie befasst sich mit den Verbindungen stabiler Atome und durch Reaktionen können diese ihre Form (ein Stück Eisen, Stahl, Rost…) verändern – es finden Transformationen statt. Wir verallgemeinern das: Wenn sich in Prozessen etwas verändert, verändert sich nicht die Substanz – die bleibt sich immer gleich, auch wenn sie verborgen ist – sondern deren äußerlich sichtbare Form. So ist das in der stofflich-physikalisch-chemischen Welt.

      Das Beispiel mit dem Wort “Eisen” zeigt, dass es in der Sprache anders zugehen kann. Wenn ein Wort gleich bleibt, aber die Bedeutung sich wandelt, erhält eine unveränderte Form eine geänderte Substanz – Transsubstantiation. So ist Information der Form nach stabil, aber in ihrer Substanz, das was sie der Bedeutung nach ist, ganz variabel.

      Ich hoffe, ich überziehe diesen Gedanken nicht, wenn ich ihn auf mich als Menschen anwende, aber er ist uns doch vertraut, meine ich: Was sich an mir transformiert, kann ich im Spiegel sehen: vor langer Zeit die Reifung vom Kind zum Mann, nun das fortschreitende Altern. Doch mein Bewusstsein hat sich immer wieder transsubstantiiert. Das ist das, was passiert, wenn ich – manchmal sehr plötzlich – etwas verstehe, mir ein Licht aufgeht. Ganz deutlich wird es, wenn jemand von einem Ereignis erzählt und mit den Worten endet: “…und danach war ich ein anderer Mensch.”

      Nur weil wir solche Erfahrungen gewöhnlich auch eine Transformation nennen, dabei vielleicht an eine Raupe denken, die zum Schmetterling wird oder an ein hässliches Entlein, das sich zum Schwan entwickelt, hat sich durch sie unsere Form nicht wirklich verändert. Nicht wie im ersten Satz von Kafkas Verwandlung: “Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.” Transformationen können als Metapher verwendet werden, aber ich meine es lohnt sich, bei Verwandlungen eines Menschen auf die Transsubstantiation zu schauen.

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