Die Macht der Gewohnheit Impuls 13

Stellen wir uns einmal vor, dass wir eines Tages nach einem langen, festen Schlaf aufwachen und merken, dass wir alles, aber auch alles über die Welt und über unsere Mitmenschen vergessen haben. Wir sind beunruhigt, weil wir nicht wissen, wie wir an diesen Ort und in diese Zeit gelangt sind. Rings um uns bietet sich ein verblüffendes Bild: Eine Sonne steigt höher am Horizont herauf und der Himmel verändert seine Wolkenbildungen. Wir nehmen überall bizarre Gewächse und exotische Bäume wahr. Irgendwo bewegen sich Gestalten, die so aussehen wie wir selber oder auf 4 Beinen laufen. Und wir schütteln verwundert den Kopf.

Nach einem solchen Erwachen müssen wir wahrhaftig erschrecken, weil sich vor unseren Augen nach Stunden ein nie gesehenes Schauspiel abspielt: Nachdem die Sonne verschwunden ist breitet sich zu unserer noch größeren Verwunderung ein Sternenhimmel aus.

Unser Vergessen hat uns in die merkwürdige Lage versetzt, die Welt nochmals von neuem zu entdecken.

Tatsächlich erwachen wir aber täglich mit der Erinnerung an eine vertraute Welt, in die wir als Kinder allmählich hineingewachsen sind und Zeit hatten, uns an die merkwürdige Umgebung zu gewöhnen. Die Dinge erscheinen uns so irgendwann als selbstverständliche Requisiten unseres Lebens. Selten kommen Augenblicke, in denen wir uns das Unbegreifliche unserer Lage klar machen.

Dem Wissenschaftler erscheint sein Weltausschnitt, den er erforscht, als klar umrissen und überschaubar. Kaum wird er das Unbegreifliche, die ungeheure Vielfalt der Dinge in seine Rechnungen und Modelle mit einbeziehen.

Doch die Welt ist vielfältiger, mehrdimensionaler, unberechenbarer als sämtliche gelehrten Bücher der Menschheit uns das widerspiegeln.

Erinnern wir uns an das schwindelerregende Gedankenexperiment am Anfang: welches Schauspiel müsste vor unseren Augen inszeniert werden, um uns vor dem Geheimnis des Lebens, vor der nebelhaften Weite des Unbekannten und der ganz und gar unbegreiflichen Ungewöhnlichkeit der Welt zu verbeugen?

M.S.

 

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5 Gedanken zu „<span class="entry-title-primary">Die Macht der Gewohnheit</span> <span class="entry-subtitle">Impuls 13</span>“

  1. So einfach ist das mit dem Vergessen gar nicht, denn die Welt die wir beim Aufwachen antreffen gibt in allen Dingen Zeugnis von dem was vorher gedacht und geschehen war.
    Die Sonne, die Wolken und der Sternenhimmel sind sicher nicht das Erste worüber man sich Gedanken macht, sondern ein Bett von dem man aufsteht, ein Behausung in der man sich wiederfindet und viele Gegenstände über die man sich wundert wozu sie eigentlich da sind.

    In unserer Welt finden sich überall Zeugnisse von tausenden von Jahren gelebter Menschheitsgeschichte. Das Gedächtnis kann zwar vergessen, aber das Vergessene ist damit nicht verschwunden. Der Mensch hat verschiedenste Möglichkeiten entwickelt einmal Gedachtes und Erlebtes unabhängig vom Gedächtnis festzuhalten und zu dokumentieren. Man muß nur wieder lernen diese Informationen zu lesen genauso wie wir in den letzten Jahrhunderten wieder neu gelernt haben Keilschrift und Hieroglyphen zu entziffern .

    Der totale Reset des Gehirns ist aber nicht nur ein reines Gedankenexperiment sondern kann auf Grund einer schweren retrograden Amnesie Wirklichkeit werden. Es sind aber nur ganz wenige Fälle in der Welt bekannt wo diese Art des Vergessens bis in die Kindheit zurückreicht.

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  2. Ich kann mir noch eine weitere Art des Erwachens vorstellen – Gott sei Dank nur in der Fantasie:

    Das im Umkreis Gesehene ist zwar nicht fremd, hat jedoch infolge eines traumatischen Erlebnisses seine Bedeutung verändert – so dass die Umgebung nicht mehr verständlich ist.

    Ein Alptraum gewiss. Aber in moderater Form kann es schon geschehen, dass durch emotional bewegende Informationen gewohnte Gewissheiten zusammenbrechen.
    Dieser Art sind religiöse Bekehrungserlebnisse, die als Erleuchtung gelobt werden.
    Jedoch ein Caveat: In der nachfolgenden Zeit setzt das Nachdenken wieder ein und entdeckt Leerstellen. Die Glaubenslehre muss diese auf überzeugende Weise füllen.

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    • Lieber Rudolf,
      den Hinweis auf Bedeutungsveränderungen finde ich sehr passend. Sind es doch solche Veränderungen, gegen die die Gewohnheit antritt, um aus der entstandenen “kognitiven Dissonanz” wieder ins Althergebrachte zurückzufinden. Und sie enthalten das Potenzial, sich gegen das Gewohnte zu “verlebendigen”, im Angesicht des “Geheimnisses des Lebens”.
      Ich finde Bedeutungsveränderungen haben nicht nur die Seite eines traumatischen Alptraums.
      Ich sehe auf der anderen Seite des Spektrums eine Horizonterweiterung, Einsicht, etwas Verstandenes, Gelerntes.
      Religiöse Bekehrung würde ich als eine sehr umfassende Form von Einsicht verstehen. Du betonst die Bekehrung als Rettungserfahrung aus einem Bedeutungschaos. Zu Deinem Caveat in diesem Fall würde ich sagen: “Gott sei Dank!” setzt das Nachdenken wieder ein, der Rettungsring kann losgelassen werden und das Leben geht wieder auf zwei Beinen weiter. Menschen, die sich vorsorglich mit Rettungsringen bepackt haben, um gegen alle möglichen (Denk-)Veränderungen gewappnet zu sein, finde ich ein wenig gruselig.
      Das Bedeutungschaos entsteht dadurch, dass ich von widersprüchlichen Informationen attackiert werde und mir alles zu komplex wird – Familie, Beruf, Umwelt, Politik, Katastrophen in den Nachrichten oder im eigenen Leben. Und ich fühle mich, als müsste ich ertrinken, wenn ich nicht ein paar ganz einfache Ideen bekomme, an denen ich mich festhalten kann.
      Auch wenn solche “Rettungsring-Ideen” wie Einsichten erscheinen, verstehe ich unter Einsichten geradezu das Gegenteil: Einzelne Lebenserfahrungen lösen sich nicht im Bedeutungschaos auf, sondern bündeln sich zu erkennbaren Mustern, die uns verstehen lassen. Das brüllende zweijährige Kind, das seinen Willen nicht bekommt, wird zu einem selbstwirksamen Erwachsenen, der die eigenen Interessen mit denen anderer verhandeln kann. Gehen solche Einsichten auf das Ganze (das wir nie erfassen können, weil wir ja selber nur ein Teil davon sind), gewinnen sie nochmal eine eigene Qualität, die man wohl “religiös” nennen darf. Sie heißt im Beitrag “ganz und gar unbegreifliche Ungewöhnlichkeit der Welt”, die uns erfasst, wenn wir von den Einzelheiten absehen. Oder besser noch: Die wir in allen Einzelheiten erkennen können, wenn wir uns ihnen bewusst, nicht nur aus Gewohnheit zuwenden.

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  3. Vielen Dank für diese Führung ins Staunen.

    Das Gedankenexperiment hat mich angeregt, gleich weiter zu denkexperimentieren: Es geht davon aus, dass hier ich bin und ich bin mir nicht unbekannt geworden, und dort eine unveränderte, aber vergessene Welt. Und ich frage mich nun, wie eng sich diese Grenze um mich ziehen lässt, was ich also auch von mir vergessen haben könnte, ohne mich vergessen zu haben. Meine Kleidung? Kein Problem. Mein Körper? Nun ja, die Gliedmaßen vielleicht. Aber was sonst ist “nur” meins und nicht schon “ich”?
    Angenommen, meine Gedanken, mein Selbstbewusstsein hätten auch ohne Körper Bestand, dann wäre der ganze Körper Teil der Welt, die ich vergessen hätte und Gegenstand erneuten Staunens.
    Und Gott? Wo ist Gott in diesem Experiment? In der Welt geblieben und also auch vergessen, erst durch das Staunen neu zu erschließen? Oder eher das, was auch dann noch in meinem innersten Kern auf mich wartet, wenn das Vergessen auch mich erfasst?

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  4. Nein, “Dem Wissenschaftler erscheint sein Weltausschnitt, den er erforscht,” NICHT “als klar umrissen und überschaubar”. Er sucht ja nach der unbekannten Ursache einer beobachteten Wirkung. Wenn er nun erkennen muss, dass es diese Ursache in der menschlich zugänglichen Welt nicht gibt und nicht geben kann, dann ist dieser Wissenschaftler der erste, der sich über die Welt wundert und sich gezwungen sieht, sie demütig-resignierend zur Kenntnis zu nehmen – während alle anderen Menschen, die hier zu Hause sind, es getrost bei der Vordergründigkeit ihrer Gewohnheiten belassen können.
    Dies ist ein Kommentar gegen Karl Barth und hoffentlich ganz im Sinne Schleiermachers.

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