Situation der Kirche in einer säkularen Gesellschaft Kernthesen des Vortrags von Bischof Martin Hein auf der DV 2018

Auf der Delegiertenversammlung 2018 sprach Bischof Martin Hein über die Situation der Kirche in einer säkularen Gesellschaft. Wir dokumentieren die Kernthesen seines Vortrags:

„Säkularisation“ bedeutet seit dem frühen Mittelalter die Übernahme von kirchlichem Besitz in andere, nichtkirchliche Hände, es meint wörtlich übersetzt: Verweltlichung. Daraus hat sich der Begriff der „Säkularisierung“ entwickelt, der den umfassenden Vorgang der schwindenden Bedeutung von Religion in einer Gesellschaft als einer wesentlichen Dynamik der Moderne meint. Der Begriff ist aber umstritten, weil er implizit eine Wertung enthält. Man kann darunter z.B. auch eine Befreiung verstehen. Je nach Einschätzung kann der Begriff Religionslosigkeit, Entchristlichung oder Entkirchlichung bedeuten und entsprechend strategisch eingesetzt werden. Aus Gründen der begrifflichen Klarheit orientierte sich der Vortrag am Begriff des „säkularen Staates“.

Die Bundesrepublik ist ein säkularer, weltanschaulich neutraler Staat, der sich nicht auf eine tragende Staatsideologie stützt, sondern auf den Willen der Wähler, das Gemeinwohl sowie bürgerliche Werte wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität, also die allgemeinen Menschenrechte, die in der Verfassung formuliert sind und die im Rahmen der Gewaltenteilung die Richtschnur des politischen Handelns darstellen. Das ist die präziseste und einzig wirklich wertfreie Beschreibung dessen, was mit „säkular“ gemeint sein kann. Dafür stehen der Artikel 4 Grundgesetz und seine Ausdifferenzierung in Artikel 140 GG. Im Kern geht es um die Bewahrung der positiven Religionsfreiheit, die das Verhältnis von Staat und Religion im Verhältnis der „fördernden Neutralität“ beschreibt: Es besteht keine Staatskirche. Aber es gibt Verträge, die das Miteinander regeln.

Das zeigt sich im Prinzip der Subsidiarität, das für die Situation der Kirchen in der Bundesrepublik von besonderer Bedeutung ist. Die verfasste Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts ist kein Teil des Staates, sondern explizit ein Teil der Zivilgesellschaft. Als Teil der Zivilgesellschaft ist sie Teil der pluralen Öffentlichkeit, auch wenn sie nicht mehr die gesellschaftliche Mehrheit repräsentiert. Die angemessene Beschreibung der Aufgabe der Kirche im modernen säkularen Rechtsstaat ist aus dessen Sicht in der Wahrnehmung der Subsidiarität und aus unserer Sicht in der Verkündigung des Evangeliums gegeben, wobei die Wahrnehmung subsidiärer Aufgaben zugleich ein Ausdruck der Verkündigung des Evangeliums sein sollte. Aber sie erschöpft sich nicht darin! Gottesdienst, Unterricht und Seelsorge sind die Alleinstellungsmerkmale der Kirchen und Religionsgemeinschaften, durch die sie sich von anderen Organisationen unterscheiden! Folgende Punkte sind daher wesentlich:

1. Zur Etablierung eines funktionierenden Staatswesens sind Glaube und Religion nicht notwendig. Der Staat kann, abgeleitet aus der Souveränität des Volkes, von sich aus ein „guter Staat“ sein und als solcher seinen göttlichen Auftrag auch dann wahrnehmen, wenn er sich nicht daraus versteht. Die Zuschreibung eines „göttlichen Auftrags“ an den Staat ist eine (durchaus theologisch umstrittene) Glaubensaussage, kein Rechtssatz!

2. Der christliche Glaube bringt in den Staat ein Element der Rückbindung ein, das diesen darauf anspricht, dass er sich nicht sich selbst verdankt und in seinem Anspruch relativiert ist – was der Kirche wiederum erlaubt, sich der freiheitlichen und demokratischen Grundordnung angemessen zuzuwenden. Das war die ursprüngliche Richtung des Satzes des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Frankfurt am Main 1976, 60).

3. Wir müssen damit ernst machen, dass der öffentliche Einfluss der Kirchen allmählich zurückgeht. Wir stehen im Wettbewerb mit anderen gesellschaftlichen „Playern“. Das verstärkt die Aufgabe, selbstbewusst, aber nicht auftrumpfend die Lebensdienlichkeit des Evangeliums zu kommunizieren. Denn ihm liegt ein Verständnis von Mensch, Gesellschaft und Staat zugrunde, das auf Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung hin ausgelegt ist.

4. Deutlich ist, dass der christliche Glaube in seiner kirchlich verfassten Gestalt nur werbend, einladend, argumentativ und in wissenschaftlich verantworteter Weise am gesellschaftlichen Diskurs teilnehmen kann. Das erkennt der Staat insofern an, als er den Religionsunterricht auch weiterhin in die inhaltliche Verantwortung der Religionsgemeinschaften legt und Theologie als ordentliches Lehrfach an staatlichen Universitäten verankert.

Wir geben – in der Sprache der biblischen Tradition – „dem Kaiser, was des Kaisers ist“ (Matthäus 22,21), wenn wir uns als Kirchen aktiv an der Gestaltung des gesellschaftlichen Prozesses beteiligen. In diesem Sinne ist die Kirche auch weiterhin „Volkskirche“ aus dem „Volk“ und im „Volk“, auch wenn der Begriff „Bevölkerung“ aus historischen Gründen zu bevorzugen ist.

Die europäische Dimension dieser Fragestellung wird für die künftige Entwicklungen von Bedeutung sein, weil Religion seit einiger Zeit auch politisch wieder eine große Rolle spielt und der Begriff „Europa“ historisch eine religiöse Komponente hat, die sich z.B. in der problematischen Rede vom „christlichen Abendland“ niederschlägt. Es ist eine wesentliche Aufgabe des vielgestaltigen Christentums, im Pluralismus das Bewusstsein für Pluralität wach zu halten und so gerade als Kirchen die Fahne der Aufklärung und des verständigen Diskurses hoch zu halten. So können wir sowohl der weltanschaulichen Vereinnahmung des Staates als auch einer sogenannten „Entweltlichung“ des Glaubens und jeglichen Fundamentalismen etwas entgegensetzen. Der säkulare Staat und die säkulare Gesellschaft sind das Beste, was wir in der Geschichte bisher hatten, um in aller Freiheit die Freiheit zu gestalten, in die uns das Evangelium ruft.

Prof. Dr. Martin Hein