Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen von Jörg Winter

Staat und Kirche sind in unserem Staate getrennt. Heißt das aber, dass die Kirchen sich nicht in die Politik einzumischen hätten? Ist Religion tatsächlich „Privatsache“, wie es immer wieder behauptet wird? Oder gibt es vielleicht doch eine spezifisch christliche Verantwortung in einem demokratischen Staatswesen, die mehr ist als die bloße Vertretung der institutionellen Interessen der Kirche? Diesen Fragen ist der Autor in einem Vortrag bei der Mitgliederversammlung des Landesverbandes Baden der EAiD nachgegangen, dessen Kurzfassung hier wiedergegeben wird.

Das Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland hat in seinem Art. 140 einen Artikel aus der Weimarer Reichsverfassung übernommen, der kurz und klar feststellt: „Es gibt keine Staatskirche“ Für die evangelische Kirche, die über Jahrhunderte hinweg eng mit dem monarchischen Staat verbunden war, war das Jahr 1918 ein tiefer Einschnitt und sie  hat sich schwer damit getan, zum neuen demokratischen Staat der Weimarer Republik ein positives Verhältnis zu finden. Heute sind die Trennung von Staat und Kirche sowie die weltanschauliche Neutralität des Staates als Grundlage eines pluralistischen Staatswesens, das sich zur umfassenden Gewährleistung der Religionsfreiheit für alle seine Bürger verpflichtet weiß, auch von den Kirchen vorbehaltlos anerkannt. Was aber folgt daraus für die Frage nach den Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftspolitischen Fragen?

Dietrich Bonhoeffer hat in seinem berühmten Aufsatz „Die Kirche vor der Judenfrage“ im April 1933 hervorgehoben, dass es nicht Aufgabe der Kirche sein könne, unmittelbar selbst politisch zu handeln und in die Verantwortlichkeit staatlichen Handelns einzugreifen. Aber, so fährt Bonhoeffer fort, „das bedeutet nicht, daß sie teilnahmslos das politische Handeln an sich vorüberziehen läßt; sondern sie kann und soll, gerade weil sie nicht im einzelnen Fall moralisiert, den Staat immer danach fragen, ob sein Handeln von ihm als legitim staatliches Handeln verantwortetet werden könne, das heißt als Handeln, in dem Recht und Ordnung, nicht Rechtlosigkeit und Unordnung geschaffen werden“.

Bonhoeffer sieht drei Möglichkeiten der Kirche, ihre politische Verantwortung gegenüber dem Staat wahrzunehmen, nämlich

  1. die an den Staat gerichteten Frage nach dem legitim staatlichen Charakter seines Handelns, das heißt die Verantwortlichmachung des Staates für das was er tut oder unterlässt,
  2. den Dienst an den Opfern des Staatshandelns, denn die Kirche ist den Opfern jeder Gesellschaftsordnung in unbedingter Weise verpflichtet, auch wenn sie nicht der christlichen Gemeinde zugehören, und
  3. nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.

Die dritte Möglichkeit wäre ein unmittelbar politisches Handeln der Kirche, das Bonhoeffer nur dann für möglich und gefordert ansieht, „wenn die Kirche den Staat in seiner Recht und Ordnung schaffenden Funktion versagen sieht, das heißt wenn sie den Staat hemmungslos ein Zuviel oder Zuwenig an Ordnung und Recht verwirklichen sieht. In beiden muss sie dann die Existenz des Staates und damit auch ihre eigenen Existenz bedroht sehen.

Über die Notwendigkeit des unmittelbar politischen Handelns der Kirche in diesem Sinne  ist nach Auffassung Bonhoeffers jeweils von einem „evangelischen Konzil“ zu entscheiden und kann nie vorher kasuistisch konstruiert werden. Dahinter verbirgt sich letztlich das Problem, ob und unter welchen Voraussetzungen es ein Recht auf Widerstand gibt, das hier nicht vertieft werden kann.

Christen als Staatsbürger

Die Befürchtung, die Kirche könnte das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche in Frage stellen und ziele darauf ab, sich an die Stelle des Staates zu setzen oder wolle die Politik klerikal bevormunden, ist jedenfalls heute ganz unbegründet. Gleichwohl ist es keine Grenzüberschreitung, wenn sich die Christen und die Kirche auch zu politischen Fragen zu Wort melden, denn: „Christliche Existenz ohne politische Relevanz“ gibt es nicht. (Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen, Eine Denkschrift der Kammer für soziale Ordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland, 3. Aufl. Gütersloh 1970)

Das kann sie schon deshalb nicht geben, weil gerade auch das Schweigen zu gesellschaftlichen Entwicklungen, das Wegsehen und einfach Geschehen lassen, nicht ohne politische Auswirkungen bleibt, wie gerade auch die Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus zeigen. Mehr noch als durch ihr Reden und Handeln kann sich die Kirche in Schuld verstricken, durch das was sie nicht zur rechten Zeit sagt und was sie unterlässt zu tun, wenn es notwendig ist.

So wie unserer Väter und Mütter für die Juden 1933 rechtzeitig hätten schreien müssen, wie es Bonhoeffer eingefordert hat, so stehen wir heute vor den Frage, was wir als Christen und als Kirche unterlassen haben, dass das Gedankengut des Rassismus wieder um sich greifen kann, dass Ausländer in Deutschland nicht mehr sicher leben können, dass wir zu Lasten unserer Umwelt wirtschaften und die Gewährleistung der Freiheitsrechte in unserer Gesellschaft mehr und mehr an Substanz verliert. Ob wir es wollen oder nicht, ob es uns selbst oder den Politikern nun passt oder nicht, wir sind durch diese Themen auch in der Bewährung unseres christlichen Glaubens herausgefordert und können uns nicht in die Nische privater Frömmigkeit zurückziehen oder abdrängen lassen, weil es Konflikte erspart und für alle Beteiligten der bequemere Weg ist.

Wenn die Christen und ihre Kirchen sich in politische Diskussionen einmischen und ihre Auffassung dazu zu Gehör bringen, dann tun sie das nicht als Außenstehende, die mit dem Anspruch der hören moralischen Autorität andere kritisieren und bevormunden, sondern sie leisten damit einen Beitrag zum politischen Diskurs in einem pluralistischen Staatswesen, das vor allem auch auf solche gesellschaftlichen Kräfte angewiesen ist, die sich dabei nicht primär von unmittelbar eigenen Interessen leiten lassen.

Für die evangelische Kirche ist von vornherein klar, dass sie in solchen Fragen nicht etwa die Autorität eines unfehlbaren Lehramtes für sich in Anspruch nimmt, das sie selbst in unmittelbaren Fragen des Glaubens nicht kennt. Auch die Kirche ist mit allem was sie sagt darauf angewiesen, dass sie mit ihren Argumenten überzeugen kann und sie kann ihre Ziele nur durchsetzten, wenn es ihr gelingt, den demokratischen Willensbildungsprozess entsprechend zu beeinflussen und die erforderlichen Mehrheiten zu gewinnen.

Ihr dieses Recht mit dem Argument zu verweigern, politische Entscheidungen dürften wegen der Neutralitätspflicht des Staates nicht religiös motiviert sein, wäre nicht nur eine Behinderung des Prozesses der demokratischen Willensbildung, sondern ein klarer Verstoß gegen die Gewährleistung der Religionsfreiheit, die auch und gerade diese öffentliche Dimension einschließt.

Kirche als Institution

Wenn die Kirche im Konzert der pluralistischen Meinungen auf den Prozess der politischen Willensbildung wirksam Einfluss nehmen will, dann setzt das freilich voraus, dass sie über die notwendige Kompetenz verfügt. Der frühere Oberkirchenrat im Kirchenamt der EKD, Tilman Winkler hat fünf Aspekt benannt, die diese Kompetenz ausmachen, nämlich:

  • Geistliche Vollmacht,
  • Glaubwürdigkeit,
  • Sachkundigkeit,
  • Weisheit und
  • Zuständigkeit.

Kirchliche Äußerungen müssen ihre Wirkung verfehlen und werfen zu Recht die Frage nach ihrer inneren Legitimität auf, wenn sie sich in einem dieser Punkte als defizitär erweisen. Was die Vollmacht der Kirche angeht sind mit den Begriffen Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung im Wesentlichen die Themenkreise benannt, die einen besondern Bezug zu ihrem geistlichen Auftrag aufweisen.

Entgegen einem vielfach anzutreffenden Missverständnis ist es unbedingt notwendig, diesen Zusammenhang herzustellen. Die Auffassung, dass sich die Kirche ja ruhig zu politischen Fragen äußern könne, ihre Meinung aber bitte schön nicht vom Evangelium her begründen möge, verkennt, dass die Kirche überhaupt nur dann mit Vollmacht reden kann, wenn sie dies auf Grund einer Motivation des Glaubens tut. Kann Sie das nicht deutlich machen, bleiben ihre Äußerungen eine Stimme unter vielen ohne Profil und Gewicht.

Ein häufiger Einwand dagegen besteht darin, dass allen, die eine andere Meinung vertreten, damit abgesprochen werde, gute Christen zu sein. Dieser Einwand trifft deshalb nicht zu, weil er Sache und Person miteinander verwechselt. Er verschiebt die mögliche und nötige Auseinandersetzung in einer Sachfrage auf die Ebenen einer Beurteilung der Person, die eine bestimmte Auffassung vertritt, also auf ein Thema, dass im Normalfall gar nicht zur Debatte steht.

Status confessionis

Eine Ausnahme stellt hier möglicher Weise die besondere Situation dar, wenn die Kirche in einer politischen Frage den „Status confessionis“ ausruft, also gegenüber jedermann verbindlich feststellt, das bestimmte Lehren und Handlungen oder deren Billigung in einer bestimmten geschichtlichen Situation der Verleugnung des christlichen Glaubens gleichkommt. Ein Beispiel dafür ist der Erklärung des Moderamens des Reformierten Bundes aus dem Jahre 1982, in dem heißt:

„Die Friedensfrage ist eine Bekenntnisfrage. Durch sie ist für uns der status confessionis gegeben, weil es in der Stellung zu den Massenvernichtungsmitteln um das Bekennen oder Verleugnen des Evangeliums geht.“ ( Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche, Eine Erklärung des Moderamens des reformierten Bundes, Gütersloh 1982)

Diese Position, eine politische Entscheidung – und sei es eine solche auf Leben und Tod – zu einer Frage des Bekenntnisses zu erheben, ist vor allem auf lutherischer Seite auf heftige Ablehnung gestoßen, weil die Voraussetzung nicht akzeptiert wird, dass es nur einen denkbaren politischen Weg zur Erhaltung des Friedens gebe. Es ist sicher zutreffend, dass es in politischen Fragen so gut wie nie nur einen denkbaren Weg gibt. Dennoch geht die lutherische Kritik am tieferen Kern des Problems vorbei, denn die entscheidende Frage ist, ob eine bestimmte politische Lösung prinzipiell als mit dem Evangelium unvereinbar anzusehen ist.

Außer der Frage nach der Beurteilung der Option zur Anwendung von Massenvernichtungsmitteln, ist in diesem Zusammenhang zum Beispiel an den absoluten Ausschluss der Anwendung von Folter zur Aufklärung von Straftaten oder die Ächtung jeglicher Form der Sklaverei zu denken. Gerade indem bestimmte politische Lösungen schlechthin ausgeschlossen werden, wird der Weg frei, andere politische Alternativen zu entwickeln. Deshalb ist auch der Bismarck zugeschrieben Satz: „Mit der Bergpredigt lässt sich keine Politik machen“ falsch, weil er die Sache auf den Kopf stellt. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Ethik der Bergpredigt ermöglicht politische Lösungen, weil sie den Automatismus von Gewalt und Gegengewalt in seinen zwanghaften Abläufen durchbricht und damit neue Möglichkeiten zur Konfliktbewältigung erst eröffnet.

Festzuhalten bleibt aber, dass in normalen Zeiten die Verwerfung bestimmter politischer Lösungen im Sinne des „Status Confessionis“ die seltene Ausnahme sein dürfte. Im Übrigen bleibt dann immer noch die Frage, wer darüber zu entscheiden hat. Wenn man Bonhoeffer folgt, bedürfte es dazu eines „evangelischen Konzil“, jedenfalls aber einen „Magnus consensus“ innerhalb der Kirche.

Glaubwürdigkeit

Nach der geistlichen Vollmacht, ist das zweite Kriterium für kirchliche Äußerungen nach Tillmann Winkler die Glaubwürdigkeit. Da die Kirche, wie gesagt, zu einer Gesellschaft redet, von der sie selbst ein Teil ist, ist sie auch immer ein Stück weit Adressat ihrer eigenen Rede. Sie ist daher auch immer der Frage ausgesetzt, ob und wie sie selbst bereit ist, sich entsprechend ihrer eigenen politischen Forderungen zu verhalten und unbequeme Konsequenzen im Kauf zu nehmen. Zu Recht heißt es im gemeinsamen Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofkonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ aus dem Jahre 1997:

„Deshalb dürfen Glauben und Leben, Verkündigung und Praxis der Kirche im eigen Verhalten der Kirche wie in ihrer Botschaft nicht auseinandertreten. Die Christen können nicht das Brot am Tisch des Herrn teilen, ohne auch das tägliche Brot zu teilen.“

Das freilich ist oft schwerer getan als gesagt, denn auch die Kirche unterliegt vielfachen wirtschaftlichen und anderen Zwängen, denen sie sich entziehen kann oder will.

Sachkunde

Die Überzeugungskraft kirchlicher Stellungnahmen hängt auch mit dem nächsten Kriterium zusammen, nämlich der Sachkundigkeit. Glaubenstärke ersetzt nicht die Sachkunde. Dies bedeutet auch, dass es nicht Sache der Kirche sein kann, sich zu jedem beliebigen politischen Tagesthema zu äußern, wenn sie davon nicht genügend versteht und dafür kein in ihrem Auftrag begründeter Anlass besteht.

Die Kirche ist deshalb gut beraten, sich in der Orientierung an ihrem religiösen Auftrag der notwendigen Selbstbeschränkung zu unterwerfen. Eine geschwätzige Kirche ist ebenso wenig hilfreich, wie eine Kirche, die zur rechten Zeit nicht den Mund aufmacht.

Weisheit

Kirchliche Äußerungen zu gesellschaftlichen und politischen Fragen, sollen aber nicht nur sachkundig sein, sondern auch „weise“. Unter dem Kriterium der „Weisheit“ vermerkt Tillmann Winkler unter anderem die Stichworte „hilfreich“, seelsorgerlich“, „wohldurchdacht“, „besonnen“, „einfühlsam“, „weitsichtig“, „maßvoll“ „geschickt“.

Alle diese Kriterien sind sicher zutreffend und richtig. Sie bergen aber die Gefahr in sich, dass kirchliche Stellungnahmen, in dem Bestreben, alle dieses gleichzeitig zu erfüllen, zu ausgewogen und zu harmonisch ausfallen. Sie müssen und sollen eben auch „anstößig“ sein, also Anstoß geben und Anstoß erregen, möglicherweise sogar innerhalb der Kirche selbst. Auch die kirchliche Einheit ist kein oberster Wert, der dadurch erhalten werden kann, „dass sich die Kirche auf ‚todrichtige’ allgemeine Äußerungen beschränkt, die der nahezu einmütigen Zustimmung sicher sind, weil sie keine Konsequenzen für das Verhalten in Politik und Gesellschaft erkennen lassen.“ (Denkschrift EKD Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen)

Zu diesem Zweck ist es unter Umständen nötig, auch einseitig Partei zu ergreifen, zum Beispiel für solche Menschen, die in unserer Gesellschaft kaum eine Stimme haben, deren Interessen allzu leicht unter die Räder geraten, weil sei keine eigene Stimme haben. Und derer gibt es viele von A, wie Asylbewerber und Arbeitslose bis Z, wie Zwangsprostituierte.

Die Kirche muss deshalb im Einzelfall die Rolle definieren, in der sie jeweils reden will. Es kann sein, dass sie sich in einer Streitfrage als Vermittlerin anbietet, sie kann aber auch genötigt sein, im Sinne Bonhoeffers einseitig und streitbar Partei zu ergreifen, wenn Menschen zu Opfern der Gesellschaft oder des stattlichen Handelns werden, und sie kann ihre Aufgabe darin sehen, in politischen Fragen voraus zu denken und bestimmte Entwicklungen anzustoßen. Ein Musterbeispiel für das letzte ist die viel gerühmte Denkschrift der EKD „Die Lage der Vertrieben und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ aus dem Jahre 1965, die entscheidend dazu beigetragen hat, der Aussöhnung mit den Staaten des ehemaligen Ostblocks den Weg zu ebnen.

Kirchenasyl und Boykottaufrufe

Lassen Sie mich das am Beispiel des so genannten „Kirchenasyl“ erläutern:

Das „Kirchenasyl“ ist eine Handlung zum Schutz akut bedrohten Lebens, die dazu helfen soll, Zeit zu gewinnen für eine der Bedeutung eines Menschenlebens entsprechende Überprüfung der Frage durch die zuständigen staatlichen Stellen, ob nicht doch eine Duldung ausgesprochen werden kann, bis die Flüchtlinge ohne Gefahr um ihr Leben in ihre Heimat zurückkehren können. “Kirchenasyl” in diesem Verständnis bedeutet die durch Mitglieder christlicher Gemeinden gewährte Zuflucht und Fürsprache für menschenrechtswidrig Verfolgte. Als “subsidiärer Menschenrechtsschutz” kann das “Kirchenasyl” in Notfällen ethisch gerechtfertigt sein, wenn sich das staatliche Asylrecht nicht am Maßstab der Menschenwürde und der Achtung der Menschenrechte orientiert.

In der Gewährung von „Kirchenasyl“ schlägt sich unmittelbar die Beistandspflicht der christlichen Gemeinde für bedrohte Menschen im konkreten Einzelfall nieder. Aber die Einzelfälle gewinnen zugleich allgemeine Bedeutung, denn sie können “auf Mängel in der allgemeinen Rechtslage oder der einzelnen Gesetzesregelungen hinweisen, die dann mit dem Ziel einer Änderung zum Gegenstand öffentlicher Kritik und Auseinandersetzung gemacht werden müssen”. (Erklärung des Rates der EKD vom 9./10. September 1994)

Ein anders Beispiel aus der Praxis betrifft die Frage nach der Rechtfertigung von Boykottaufrufen gegen bestimmte Firmen oder Produkte. Ich denke zum Beispiel an die Aktion „Kauft keine Früchte der Apartheid“ der evangelischen Frauenarbeit während der Zeit der Rassentrennung in Südafrika. Ebenso wie beim „Kirchenasyl“ handelt es sich hier insofern um Grenzfälle, weil die Kirche hier über einen Beitrag zur politischen Meinungsbildung hinaus aktiv handelnd in den Aufgabenbereich des Staates beziehungsweise den Rechtskreis eines privaten Unternehmens eingreift. In diesem Zusammenhang können sich durchaus schwierige juristische Fragen stellen, die das Strafrecht und das Zivilrecht, aber auch das Verfassungsrecht und seine Ausstrahlungswirkung auf andere Rechtsgebiete berühren.

Zuständigkeit

Das letzte von Tillmann Winkler genannte Kriterium ist die Frage nach der „Zuständigkeit“ der Kirche. Tatsächlich ist die Kirche ja nicht „zuständig“ für die Frage, ob der Staat im Einzelfall Asyl gewährt oder nicht und sie ist auch nicht zuständig für die betriebswirtschaftlichen Entscheidungen einzelner Unternehmen, zum Beispiel bei Stilllegungen von Betrieben. Sie trägt dafür weder die politischen noch die wirtschaftlichen Konsequenzen.

Woher also nimmt die Kirche das Recht, sich in solchen Fragen einzumischen, von denen sie selbst gar nicht unmittelbar betroffen ist? Den Grund dafür hat bereits Dietrich Bonhoeffer in seinem zitierten Aufsatz über die Kirche vor der Judenfrage genannt, die Tatsache nämlich, dass sich die Kirche den Opfern jeder Gesellschaftsordnung in unbedingter Weise verpflichtet weiß.

Gerade dann, wenn die Kirche nicht für ihre eigenen institutionellen Interessen eintritt, erfüllt sie ihren besonderen Auftrag, indem sie als Anwalt der Menschen auftritt, deren Rechte missachtet und deren Lebenschance zerstört werden. Eine Gesellschaft und ein Staat, die die Achtung der Menschenwürde zu ihrem obersten Ziel erklärt haben, und die sich den Prinzipien der Freiheit und der Demokratie verpflichtet wissen, wären schlecht beraten auf diesen Dienst der Christen und ihrer Kirchen zu verzichten.