„Antisemitismus und Meinungsfreiheit in Deutschland“ Vortragsskript von Aleida Assmann bei der Online-Delegiertenversammlung der EAiD, 10.07.2021

Ein Rückblick ins Jahr 2016

Seit 2016 gibt es eine Diskussionsreihe Berliner Korrespondenzen über die die großen Zukunftsfragen unserer Zeit. Das Motto lautet: „(Un-) Ordnungen im entgrenzten Europa“. Die Veranstaltungen werden organisiert von der Allianz Kulturstiftung zusammen mit dem Forum des Gorkitheaters, der Humboldt Universität Berlin und dem Auswärtigen Amt. Zur Eröffnung dieser Reihe waren als Teilnehmer der Historiker Dipesh Chakrabarty und der Philosoph Achille Mbembe eingeladen, eröffnet wurde die Reihe vom damaligen Außenminister Frank Walter Steinmeier. In seiner Einleitungsrede hat er das Konzept der Veranstalter genauer erläutert. „Gerade jetzt, wo die Welt aus den Fugen geraten scheint“, müssen wir „eigene vorgebliche Gewissheiten in Frage stellen. Und das nicht im Selbstgespräch und in eitler Selbstbespiegelung, sondern im Gespräch mit Menschen, die aufgrund von Geografie, Geschichte und Traditionen einen ganz anderen Blick auf die Welt haben“. Wir müssen dabei, so fordere Steinmeier, „ein Auge und ein Ohr dafür haben, wonach andere Akteure in ihren Ordnungsvorstellungen suchen. Und: dass unsere Vorstellung von Ordnung in anderen Gesellschaften Grund für Unordnung sein kann“. Steinmeier warb dafür, Neues aufzunehmen und Fehler zu korrigieren ohne das dabei Grundsätzliche in Frage zu stellen. Die Kulturinstitutionen im Allgemeinen und die Kunst im Besonderen hätten hier eine wichtige Aufgabe. Den Veranstaltungsort, die Bühne des Gorki-Theaters bezeichnete er als einen idealen „Streitraum, in dem diese Fragen dramatisiert und verhandelt werden“ und schloss mit einem Dank an die Intendantin Shermin Langhoff:

„dieses Haus hier steht in einer besonderen demokratischen und weltoffenen Tradition von 1848 und diese pflegst Du an diesem Ort. Dafür danke ich, danken wir sehr!“

Frank Walter Steinmeier in seiner Begrüßungsrede anlässlich der Veranstaltung „Berliner Korrespndenzen“ im Gorki Theater am 22. Mai 2016.

Ich habe diese Sätze hier noch einmal in Erinnerung gerufen, weil sie inzwischen ‚historisch‘ geworden sind. Die Welt hat sich nämlich seither deutlich verändert. ‚Diese Sätze sind heute Geschichte‘ – das bedeutet: das ist nicht mehr unsere Gegenwart. Rückblickend halte ich das Jahr 2016 für eine historische Zäsur, die allerdings nicht offensichtlich ist; dennoch markiert sie einen schleichenden Wandel, den ich meinem Beitrag nachverfolgen möchte.

Was hat sich also seit der Eröffnungsrede von Steinmeier 2016 in diesem Land verändert? Meine Antwort darauf lautet: Zwischen Politik und Kultur, die hier noch so solidarisch miteinander auftreten, hat sich ein Graben aufgetan. Das Wort „weltoffen“, das Steinmeier im Munde führt, hat die Seiten gewechselt und ist zur Selbstbeschreibung einiger Kulturvertreter geworden, die sich jetzt für Meinungsfreiheit einsetzen. Politik und Kultur ziehen nicht mehr am selben Strang. An die Stelle des Schulterschlusses ist eine Spaltung getreten, die durch den Einsatz der Medien permanent vertieft wird. Wie ist es dazu gekommen?

Während das Covid 19 Virus uns räumlich in Schach hielt, begann fast gleichzeitig in den Medien eine Debatte, die sofort weitere Kreise zog und noch keineswegs ihr Ende gefunden hat. Ich möchte hier einige Stationen dieser Debatte rekapitulieren und tue das vor dem Hintergrund meiner teilnehmenden Beobachtung an zwei digitalen Gruppen, in denen ich mitwirken durfte. Was ist hier geschehen und was können wir daraus lernen?

Außer Rand und Band

Auslöser war ein Medienskandal. Es ging um den bereits genannten kamerunischen Philosophen Achille Mbembe, ein international gefeierter Philosoph. Als führender Vertreter der postkolonialen Theorie war er auch in Deutschland bestens bekannt durch den Geschwister-Scholl-Preis (2015) und den Gerda-Henkel-Preis (2018). 2016, als die Veranstaltung mit Steinmeier stattfand, brachte die Bundeszentrale für politische Bildung eine günstige Lizenzausgabe seines Buches Kritik der schwarzen Vernunft heraus. Ich selbst habe Achille Mbembe einmal auf einer Tagung in Stockholm erlebt mit einem Vortrag über „The Open Story“, in dem er uns das afrikanische Prinzip des Erzählens als Verwandeln und Weitererzählen nahebrachte. Damals war auch ein Skandal mit im Spiel, er betraf aber nicht den Redner, sondern seine Familie. In den Vortrag brach nämlich die Nachricht ein, dass seine Frau und seine Kinder an irgendeiner europäischen Grenze festhingen und schikaniert wurden, weshalb Mbembe vorzeitig abreisen und sich um sie kümmern musste.

Um diesen berühmten Achille Mbembe entspann sich ein unerwarteter Streit. Aufgrund der Anordnung des 2018 eingesetzten Antisemitismusbeauftragen Felix Klein wurde Mbembe als Gast der Ruhrtriennale 2020 wieder ausgeladen. Wie konnte dieser berühmte Philosoph so plötzlich zur Skandalfigur mutieren? „Nein, nicht die Preiswürdigkeit Achille Mbembes“ habe sich geändert, vermutete Sonja Hegasy in einem Kommentar, „sondern der Kontext – und dies nicht zufällig, sondern durch eine gezielte Umwertung von Begriffen“. Der neue Kontext war eine Verbindung zum BDS, einer gewaltfreien palästinensischen Boykottbewegung, die sich gegen Waren aus besetzten Gebieten richtet und im Mai 2019 durch einen Bundestagsbeschluss als antisemitisch verurteilt worden war. Seitdem gelten auch jene, die diesem Bündnis nicht angehören und sich obendrein davon distanzieren, aber in irgendeiner Form mit BDS-Mitgliedern zu tun haben, als antisemitisch, ein Tatbestand, der an den stalinistischen Begriff der ‚Kontaktschuld‘ erinnert. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags sah das in einem Gutachten anders: Der Beschluss stelle nicht mehr als “eine politische Meinungsäußerung im Rahmen einer kontroversen Debatte dar“; er sei nicht die rechtliche Richtschnur für die Exekutive, als die sie die Politiker umgesetzt hatten.

Diese Meinungsfreiheit war Mbembe abgesprochen worden. „Selten habe ich mich in meinem ganzen Leben so verletzt und respektlos behandelt gefühlt“ bekannte er in einem Interview. Es gab Verteidiger Mbembes, die den Ausgeladenen in Schutz nahmen, es gab aber auch Kritiker. In der FAZ nahm sich Jürgen Kaube Mbembes Texte vor. Seinen Artikel begann er mit den Worten: „Die Diskussion um Achille Mbembe ist außer Rand und Band geraten“. Dazu hat er selbst erheblich beigetragen. Mbembes Selbstverteidigung nannte er ein „blindes Umsichschlagen“ und bestätigte, dass er ein Fall für staatliche Zensur sei. Kaubes gezielte Lektüren ergaben, dass Mbembe das komplette Sündenregister eines ‚Antisemiten‘ aufwies: die Vorstellung von einem alttestamentlichen Rachegott, die Relativierung und Leugnung des Holocaust durch Vergleiche und die Wahrnehmung von Israel als Apartheitsstaat.

Man sagt allgemein, das erste Opfer eines Krieges sei die Wahrheit. Das erste Opfer einer außer Rand und Band geratenen Debatte ist das ‚principle of charity‘ (das Prinzip der wohlwollenden Interpretation). Wenn dieses außer Kraft gesetzt ist, sind die Grundannahmen einer gemeinsamen Menschlichkeit und Verständlichkeit gefährdet. In einem Interview mit René Aguigah wurde Mbembe zu seinem Verhältnis zum Holocaust befragt. Seine Antwort lautete: Er habe sich diesem Thema über die Arbeiten der drei Philosophen Franz Rosenzweig, Hermann Cohen und Emmanuel Levinas angenähert , habe später W.E.B. Du Bois‘ Reflexionen über dessen Besuch der Ruinen des Warschauer Ghettos im Jahre 1949 gelesen. Außerdem erwähnt er die Spiritualität der Gedichte Leopold Sedar Senghors, des ersten Präsidenten des Senegal, der während des Zweiten Weltkrieges 19 Monate in dem Nazigefängnis Frontstalag 230 verbringen musste, weil er in dieser dunklen Stunde sich für die Werte Europas kämpfte.

All das passt schlecht in das eilig angefertigte Abziehbild des neuen Antisemiten, deshalb wurden solche Informationen auch nicht in die immer wieder weitergereichte Zitatensammlung nicht aufgenommen. Diese beruht auf einer Hermeneutik des Verdachts. Sie kann sehr produktiv sein für einen Detektiv, der einem Täter auf der Spur ist und nach Indizien sucht. Sie ist aber problematisch, wenn sie einer platten Polarisierung zwischen Freund und Feind im Sinne von Carl Schmitt dient. Dann führt sie automatisch zu einer Dramatisierung von Differenz und der Politisierung ganzer Themenkomplexe.

Es ist leichter zu sagen, wie man in eine solche Polarisierung hineingerät, als wie man aus ihr wieder herausfindet. Das Klima des Verdachts begleitet uns weiterhin, und mit dem Abziehbild des Antisemiten werden inzwischen mit Vorliebe gerade jene identifiziert, die versuchen, Wege aus dieser radikal verengten Optik aufzuzeigen. Ich selbst konnte die Erfahrung machen, dass mir in den Feuilletons plötzlich grotesk entstellte Zitate aus meinen Büchern begegnete, verbunden mit demütigenden Bewertungen wie „antisemitischer Angriff“ und „Holocaustleugnung“ (Beispiele: Jeremy Adler und Thomas Schmid in der Welt). Dieses Schicksal hat inzwischen auch jüdische Kolleginnen und Kollegen ereilt. So sind David Feldman, Susan Neiman oder Richard Falk als neue Antisemiten stigmatisiert worden und empfinden das inzwischen schon als einen Ehrentitel (Wiesenthalinstitut).

Alter und neuer Antisemitismus

Die Mbembe-Debatte hat das neue Abziehbild eines Antisemiten geschaffen, bei dem das ganze Spektrum rechtsradikaler Judenfeindlichkeit und Holocaustleugnung außen vor bleibt. Es ist ausgerichtet auf liberale Wissenschaftler:innen und Kulturschaffende, die auf dem Boden des Grundgesetzes stehen und die Singularität des Holocaust ebenso betonen wie das Existenzrecht des Staates Israel. Ja, wo ist denn da das Problem? wird man fragen. Mit ‚neuem Antisemitismus‘, reagiert man inzwischen auf diejenigen, die noch mit jenen reden, die sich kritisch über die aktuelle israelische Regierung äußern. Problematisch an diesem Begriff ist nicht nur, dass er auf Demokraten und friedliebende Wissenschaftler angewendet wird, sondern dass er impliziert, der ‚alte Antisemitismus‘ sei inzwischen überholt. Davon kann jedoch keine Rede sein.

In Deutschland ist die Zahl der antisemitischen Straftaten in den letzten Jahren bedrohlich gestiegen. Die meisten judenfeindlichen Delikte werden rechten Tätern zugeordnet. Seit 2015 liegt die Zahl der rechten Delikte konstant über 20.000. Im letzten Jahr betrug die Zahl der Tatverdächtigen 1019, festgenommen wurden 8 Personen und es gab nur 2 Haftbefehle. Angesichts der geringen Aufklärungsquote und Ermittlung der Straftäter bei antisemitischen Delikten und rechter Kriminalität nimmt die Angst verständlicherweise zu. „Für die Opfer dieser Straftaten ist dies doppelt schlimm“, kommentierte die Bundestagsvizepräsidentin. „Neben dem nicht eingelösten Versprechen des Rechtsstaates, dass Täter ermittelt und bestraft werden, bleibt ein Gefühl der Bedrohung, wieder Opfer einer Straftat zu werden“.

Noch im März 2020 mahnte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, die Bundesrepublik müsse „beim Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus jetzt alle Hebel in Bewegung setzen“. Der wichtigste Hebel, der seither in Bewegung gesetzt wurde, ist eine neue Antisemitismus-Definition, die von der Internationalen Holocaust-Erinnerungsgemeinschaft (IHRA) gerade flächendeckend über die Regierungen ihrer Mitgliedstaaten verbreitet wird. Diese Definition, die ein besonderes Augenmerk auf Israel-Kritik lenkt, ist für die Veränderung der politischen Kultur und den Perspektivwechsel vom ‚alten‘ auf den ‚neuen‘, d.h. den sog. israelbezogenen Antisemitismus verantwortlich.

Die Gruppe GG 5.3 Weltoffenheit

Damit hat sich die Suchoptik für Antisemitismus von gewaltbereiten Rechtsradikalen auf friedliche Bürgerrechts-Gruppen, Studierende, Wissenschaftler und Künstler und diejenigen ausgedehnt, die sich für Meinungsfreiheit einsetzen. Die erste Gruppe, die an der ich digital teilnehmen durfte, bestand aus VertreterInnen der deutschen Kulturinstitutionen, die sich seit Mai 2020 regelmäßig im Haus der Kulturen der Welt trafen, um sich über diesen plötzlichen Wandel der politischen Kultur in ihrem Land auszutauschen. Sie alle hatten hautnah erlebt, wie von Regierungsseite in die Kulturarbeit eingegriffen wurde, indem Gäste ausgeladen, MitarbeiterInnen gekündigt und Kolleginnen und Kollegen zum Rücktritt genötigt wurden. Es war klar, dass sie unter diesen Bedingungen ihre Arbeit nicht so einfach fortsetzen konnten. Ein öffentliches Forum, in dem sie dies hätten beklagen und kritisch diskutieren können, war ihnen entzogen. So trafen sie sich ein bis zwei Mal monatlich im Haus der Kulturen der Welt zu einer Selbstverständigung, deren erstes Ergebnis die große Erleichterung war, dass alle denselben Druck erfahren hatten und jetzt niemand mehr mit der Situation alleine war. Nach der spontanen Zusammenkunft konsolidierte sich allmählich mit diesen Treffen eine Gruppe in einem geschützten Raum.

Dieser Gruppe ging es aber keineswegs primär darum, die Türen hinter sich zu schließen, sondern im Gegenteil darum, Türen zu öffnen. Sie schrieben deshalb gemeinsam an einem Plädoyer und organisierten einen öffentlichen Auftritt im Deutschen Theater in Berlin am Tag der Menschenrechte, dem 10. Dezember 2020, wo ihr Plädoyer verlesen wurde und 11 Personen ein kurzes Statement aus ihrer jeweiligen Perspektive abgaben. Dieser Auftritt war als eine Pressekonferenz geplant. Die Adressaten dieser außergewöhnlichen Vorstellung im Theater, in der Vertreter des höchsten und renommiertesten Kulturinstitutionen unseres Landes ihre Notlage artikulierten, waren 30 Journalisten. Am Schluss fasste eine von ihnen das Anliegen noch einmal prägnant zusammen: wir sind hier, damit sich weitere Fälle des forcierten Rücktritts von Kolleginnen und Kollegen nicht wiederholen. Wo die einzelnen Personen machtlos waren, sollte nun die Gruppe einen gewissen Schutzraum gegen willkürliche Attacken von oben bilden. In den Medien traf ihr Plädoyer weitgehend auf Unverständnis und wurde umgehend unter shitstorms begraben. Die Bildzeitung titelte umgehend: „Kulturbetrieb stellt sich hinter Israel- Hasser“. Obwohl alle Vertreter:innen der Initiative deutlich gemacht hatten, dass sie dem BDS weder angehören, noch ihn unterstützen oder mit ihm sympathisieren, wurden sie erstens mit dieser Bewegung identifiziert und zweitens als antisemitisch eingestuft. Die Weltoffenheitsgruppe hatte ein Experiment gestartet, in dem die Mitglieder zugleich Akteure und Beobachter sind. Was sie in ihren einzelnen Statements beklagt hatten, wurde durch die Reaktion in den Medien umgehend bestätigt. Verleumdung, Verachtung und Hass schlossen den öffentlichen Raum ab, den sie hatten öffnen wollen. Seither herrscht die ‚Antisemitismusvorwurfsangst‘ und das allgemeine Schweigen.

Die Botschaft der Gruppe, die ging im Getöse der Medien sofort unterging, war das Eintreten für Meinungsfreiheit zum Schutz und zur Stärkung der Demokratie. Genau dafür steht der Paragraph 5.3 des Grundgesetztes. Zur Demokratie gehört bekanntlich der Streit. Eigentlich haben die Medien die Verantwortung, den Streit in Gang zu halten und die Gesellschaft zur kritischen Auseinandersetzung anzuregen. Nachdem der Streit „außer Rand und Band“ geraten ist, geht es um etwas anderes: um die Einhegung des Streits, der die Gesellschaft spaltet, Menschen unter Antisemitismusverdacht stellt und damit zum Schweigen bringt.

Die Gruppe JDA

Zeitgleich hatte ich die Möglichkeit, an einer anderen, davon völlig unabhängigen Gruppe teilzunehmen. Sie bestand aus Jüdinnen und Juden auf verschiedenen Kontinenten, die an einer neuen Antisemitismus drfinition arbeiten wollten und mich als Mitglied kooptierten. Auch sie reagierten auf eine Verschärfung des politischen Klimas und hatten als Ursache dafür eine neue Antisemitismus-Definition der IHRA ausgemacht, einer Arbeitsgruppe der Internationalen Holocaust Erinnerungsgemeinschaft, die in Schweden im Jahre 2000 gegründet worden war, um die Erinnerung an den Holocaust in unterschiedlichen Mitgliedstaaten von Regierungsseite zu unterstützen und zu begleiten. Die Gruppe von circa 15 Wissenschaftlern traf sich wiederholt, um eine gemeinsame Richtung festzulegen, überließ aber die Formulierungsarbeit im Detail einer kleineren Gruppe, zu der auch ich gehörte. Meine Aufgabe als nichtjüdische Deutsche bestand vor allem darin, Gesichtspunkte einzubringen, die für das Selbstbild Deutschlands als Land der Täter zentral ist wie zum Beispiel das Existenzrecht des Staates Israel als ‚deutsche Staatsraison‘. Während die neue IHRA Definition den Schwerpunkt auf den israelkritischen Antisemitismus verlegt und dies mit 11 Beispielen zu Buche schlägt, bemüht sich die neue Definition darum, die Diskussion um Antisemitismus zu entpolitisieren. Sie tut das, indem sie klarer zwischen politischen Positionen und antisemitischen Haltungen unterscheidet. Politische Positionen können dann nämlich als kontrovers oder auch als nicht akzeptabel gelten, ohne dass sie deshalb automatisch auch ‚antisemitisch‘ sein müssen. Ein weiterer Punkt ist, dass in der neuen Definition nicht nur festgestellt wird, was antisemitisch ist, sondern auch was nicht antisemitisch ist. Das Dokument besteht aus einer Kerndefinition mit 3 mal 5 Beispielen: 5 für typischen Antisemitismus, 5 für israelbezogenen Antisemitismus, und 5 für Israel-Kritik, die nicht als antisemitisch eingestuft wird. Damit wird den Entscheidern an Universitäten und in den Kommunen ein Werkzeug in die Hand gegeben, das als Orientierungshilfe – in beiden Fällen geht um eine legally non binding working definition – differenzierter und sicherer zu handhaben ist. Der IHRA Definition wird damit ein Dokument an die Seite zu gestellt, dass nicht zur pauschalen Verurteilung israel-kritischer Positionen führt, sondern Gesprächsräume öffnet, wo sich etwas bewegen kann und was das friedliche Zusammenleben zwischen Israelis und Palästinensern fördert.

Der blinde Fleck

Damit kommt ich endlich zum israelisch-palästinensischen Konflikts. Er war von Anfang an in meinem Fokus, allerdings immer in verdeckter Form als das, was nicht zur Sprache kommen durfte. Der Fall Mbembe, der Bundestagsbeschluss über den BDS, die neue Antisemitismus Definition – immer geht darum, die Aufmerksamkeit von diesem Schauplatz abzuziehen. Darauf darf nicht geblickt, darüber kann nicht gesprochen werden, hier soll sich niemand einmischen. Die aufgestellten Warnschilder tragen vor allem zu einem bei: dass dauerhaft weggeschaut wird und das Thema ein blinder Fleck bleibt. Man kann auch von einem Elephanten im Raum sprechen, von dem alle wissen, dass er da ist, aber niemand darf ihn erwähnen.12 Nicht über dieses Thema zu sprechen bedeutet den Status Quo des Trennungsregimes, die herrschende ungleiche Machtverteilung und die damit verbundene Politik anhaltender Menschenrechtsverletzungen zu befestigen. Der wiederholte Vorwurf lautet: schaut doch woanders hin, überall auf der Welt gibt es schlimme Dinge. Wer Israel kritisiert, entlarvt sich als Antisemit.

Es gibt aber gute Gründe, hinzuschauen, die nichts mit Antisemitismus zu tun haben. Das Wegschauen kann ja auch Gleichgültigkeit, das Hinschauen kann dagegen Sorge, Anteilnahme und Interesse bedeuten – für beide Parteien, natürlich. Es geht hier nicht um feindliche Konfrontation, sondern um das Gegenteil: das Öffnen von Denk- und Sprechräumen, um Bewusstseinsveränderung und vor allem um Empathie, die ja der Schlüssel zu jeder Veränderung ist.

Für mich war es ein einmaliges Erlebnis, in einer Runde jüdischer Kollegen aus unterschiedlichen Fachrichtungen so lange und leidenschaftlich an einer Antisemitismusdefinition zu arbeiten. Außer mir gab es noch einen anderen nicht-jüdischen Teilnehmer, einen palästinensischen Juristen. Von ihm habe ich einen außergewöhnlichen Satz gehört, den ich hier weitergeben möchte. Er formuliert eine Vision für einen Frieden in Israel/Palästina, der ja so unendlich schwer ist und immer wieder als unmöglich erscheint, dabei jedoch ganz einfach ist. Diese Vision lautet: „We, the Palestinians accept you as equals in our homeland, if you, the Israelis, accept us as equals in your state.”

Diese Vision zeigt einen Weg aus der Falle der Polarisierung und Politisierung auf. Er setzt allerdings eine ganz andere politische Kultur als die gegenwärtige voraus, die nicht ausschließlich auf Sicherheit und damit auf Verdacht, Bedrohung, Feindschaft und Hass gegründet ist, sondern auf Gegenseitigkeit, Vertrauen und Empathie. Meine Überlegungen möchte ich mit der Frage abschließen, wie die Voraussetzungen für eine solche neue politische Kultur geschaffen werden können und beziehe mich dabei auf Impulse von Künstlern und Wissenschaftlern. Dieser Impuls heißt: Die Gefahr einer einzigen Geschichte.

Die Gefahr einer einzigen Geschichte

Vor der Gefahr der einzigen Geschichte hat die nigerianisch-amerikanische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie, Autorin des berühmten Romans Americanah ausdrücklich gewarnt. Schon früh in ihrem Leben konnte sie feststellen, dass die Welt, wie sie ihr in Romanen und anderer Pflichtlektüre vermittelt wurde, nichts mit ihren eigenen Erfahrungen zu tun hat. Solange das kulturelle Gedächtnis ausschließlich das speichert und wertschätzt, was nur eine Gruppe der Gesellschaft erfahren hat und versteht, wird die Erfahrungsrealität anderer Mitglieder der Gesellschaft systematisch abgewertet, ja ausgelöscht. Dasselbe gilt für Stereotypen, die Minderheiten in feste Muster pressen. Aber wie jeder einzelne Mensch ist auch eine Gesellschaft aus unterschiedlichen Geschichten zusammengesetzt. An Stelle einer einheitlichen Geschichte, die nur eine Gruppe stützt, könnte auch die Prämisse treten, dass es immer einer Vielzahl von Geschichten bedarf, über die sich eine multiple Gesellschaft austauscht. Statt Ausgrenzung und Stereotypen die Asymmetrie von Machtverhältnissen festschreiben, kann die Vervielfältigung von Geschichten im Bewusstsein der Gesellschaft den Minderheiten „zur Ermächtigung, Humanisierung und Reparatur gebrochener Identitäten verhelfen“.

Diese These von Adichie habe ich inzwischen in einem ganz anderen Kontext wiedergefunden. Es handelt sich um den Satz: „Ich möchte nicht der Gefangene einer einzigen Geschichte werden“. Ausgesprochen hat ihn Benjamin Stora, ein algerisch-stämmige Historiker, den Präsident Macron zum Beauftragten der Erinnerung an die Französische Kolonialgeschichte gemacht hat. Die Verhältnisse können sich nämlich ändern, vorausgesetzt, dass ein neues Bewusstsein entsteht. Vielleicht erinnert sich noch jemand an das Jahr 2005. Damals nahm Nicolas Sarkosy den Impuls konservativer Abgeordneter und verabschiedete ein sog. „Erinnerungsgesetz“, nach dem in französischen Schulbüchern die „global positive Rolle der französischen Präsenz in Übersee“ betont werden sollte und damit die französische Geschichte des Kolonialismus nur in einem positiven Licht erscheinen durfte.

Die Zeiten können sich also durchaus ändern sich, auch auf der Ebene der Regierungen. Die europäischen Nationen sind auf dem Weg, ihre Politik des Vergessens und Verdrängens gegenüber der Kolonialgeschichte aufzugeben und neue Formen der Beziehungsgeschichten zwischen dem globalen Norden und globalen Süden zu erproben. Zu dieser Entwicklung passt auch ein Konzept von Michael Rothberg, das inzwischen intensiv diskutiert wird. Sein Buch darüber, das gerade in einer deutschen Übersetzung erschienen ist, wurde jedoch von den Medien zerrissen, weil niemand seine These verstanden hat, genauer: verstehen wollte im hysterischen Klima der Polarisierung und Politisierung. Er wurde umgehend als ein Historiker verurteilt, der die Singularität des Holocaust in Frage stellt. Das ist völlig absurd und in diesem Fall schäme ich mich gegenüber meinem Freund für diese bizarre deutsche Medienrezeption. Seit 15 Jahren arbeite ich eng mit diesem jüdischen Kollegen zusammen, der als Nachfolger auf dem Lehrstuhl von Saul Friedländer berufen wurde, also in Sachen Holocaust als ein herausragender und international renommierter Wissenschaftler gilt. Er wird als Historiker attackiert, das ist er aber gar nicht, sondern Vergleichender Literaturwissenschaftler und Gedächtnisforscher. Er schreibt also keine Geschichte, in der der Holocaust zu einer Spätfolge der Kolonialgeschichte degradiert wird, sondern schreibt darüber, wie sich Erinnerungsgemeinschaften sich an ihre Geschichte erinnern und sie in ihren Narrativen gegenwärtig halten.

Rothbergs Buch bricht ein festgefahrenes Denkmuster der Geschichtspolitik auf und ermöglicht neue Perspektiven auf konkrete Praktiken des Erinnerns. Er zeigt, dass Opfererinnerungen nicht unbedingt in gegenseitiger Konkurrenz miteinander treten und sich gegenseitig ausschließen müssen, sondern dass sie sich durchaus auch gegenseitig stützen und bestätigen können. Es muss also keineswegs so sein, dass die eigene Erinnerung die der anderen verdrängt oder gar auslöscht. Ein Beispiel dafür ist das American Black Holocaust Museum in Milwaukee, das von dem Überlebenden einer Lynch-aktion in den amerikanischen Südstaaten gegründet wurde. Sein Besuch im Yad VaShem Holocaust Museum in Jerusalem 1979 hat ihn dazu inspiriert. Er gründete das ABHM in der festen Überzeugung, dass das Versprechen von Freiheit und Gerechtigkeit, das die amerikanische Verfassung garantiert, an alle amerikanische Minderheiten gerichtet ist. Entsprechend sollte die in Deutschland und der EU inzwischen fest etablierte Überzeugung von der Singularität des Holocaust nicht dazu führen, dass in Deutschland die Erinnerung an andere Opfergruppen sei es des Zweiten Weltkriegs oder der Kolonialzeit keinen Anspruch auf Anerkennung hat. Denn Erinnerungen, so der wichtige Impuls von Rothbergs Buch, folgen nicht der Logik eines Nullsummenspiels. Ganz anders als in der Ökonomie der Macht oder des Marktes nehmen sie einander nichts weg, sondern können sich gegenseitig stützen und schützen.18 Dies als eine Relativierung des Holocaust und eine antisemitische Aussage zu sehen, ist mehr als eine groteske Verzerrung; es ist eine gezielte Aussage „in bad faith“, die das herrschende Klima des Verdachts und eines zerstörten gesellschaftlichen Vertrauens spiegelt.

Für die Deutschen und Juden bleibt die Erinnerung an den Holocaust dabei ebenso einzigartig wie die Erinnerung an die Sklaverei für die Nachkommen der Sklaven einzigartig bleibt. Zwischen ihnen Verbindungen herzustellen, nimmt ihnen nichts von ihrer Besonderheit, ermöglicht aber eine gegenseitige Verständigung über unterschiedliche Traumata und Gewaltgeschichten und ihre gegenseitige Anerkennung. Das Gebot: ‚Du sollst keine andere Erinnerung neben mir haben!‘ dagegen verengt den Zugang zur Geschichte und ihrer Gegenwart und schließt bedeutungsvolle historische Beziehungen mit anderen Gruppen aus. Das kann so weit gehen, dass die Verabsolutierung der eigenen Erinnerung nicht nur zur Ausblendung anderer Erinnerungen führt, sondern auch zur Auslöschung der Erinnerungen anderer. In Nordirland kannte man offensichtlich das Problem. Dort stand folgender Spruch auf einer Hauswand:

„A nation that keeps one eye on the past is wise.
A nation that keeps two eyes on the past is blind.”

Für dieses Problem, bei dem es um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Erweiterung des Erinnerungsrahmens geht, gibt es tatsächlich eine Lösung. Es ist die salomonische Formel des Historikers Bernd Faulenbach, der in der Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit mitarbeitete. Damals galt es, die Singularität des Holocaust im Umgang mit den beiden deutschen Diktaturen zu betonen. Seine Formel, die die Gemüter beruhigte und die Fortsetzung der Zusammenarbeit in der Kommission ermöglichte, lautete:

Die Erinnerung an die DDR Diktatur / Kolonialgeschichte darf die Erinnerung an den Holocaust nicht relativieren.
Die Erinnerung an den Holocaust darf die Erinnerung an die DDR Diktatur / Kolonialgeschichte nicht bagatellisieren.

Mit einer solchen geschichtspolitischen Rahmenbedingung ließe sich wohl auch im Fall Rothberg ein Konsens finden, der die Priorität in der deutschen Erinnerungskultur aufrecht erhält und sie gleichzeitig anschlussfähig macht für andere Erinnerungen.

Ausblick: Wege aus der Polarisierungsfalle

Ich habe mit dem Jahr 2016 begonnen, als Vertreter der Politik und der Kulturorganisationen noch gemeinsam über die dringenden Weltprobleme diskutierten und dies mit Personen taten, die inzwischen in Ungnade gefallen sind. Wenn wir uns ernsthaft um Wege aus der Polarisierungsfalle bemühen wollten, sollten wir zu den Grundsätzen zurückkehren, die Steinmeier 2016 in seiner Einführung der Veranstaltung mit Achille Mbembe klar und deutlich umrissen hat. Ich wiederhole noch einmal seinen Appell: „Gerade jetzt, wo die Welt aus den Fugen geraten scheint“, müssen wir „eigene vorgebliche Gewissheiten in Frage stellen (…) im Gespräch mit Menschen, die aufgrund von Geografie, Geschichte und Traditionen einen ganz anderen Blick auf die Welt haben“. Und ich zitiere weiter: „Was sind die Geschichten und Erzählmuster, die Träume und Traumata von Gesellschaften, die die politischen und sozialen Verhältnisse über die faktische Ordnung hinaus begründen? (…) Wir müssen eintreten in einen Prozess der Aushandlung zwischen diesen Narrativen und Erzählmustern, einen Prozess, der Voraussetzung dafür ist, dass wirklich gemeinsame Ordnungsvorstellungen möglich werden.“

Diese Frage der Berliner Korrespondenzen nach der (UN-)Ordnung der Welt wurde Mitte Februar 2021 auf einem großen Video-Kongress wiederaufgenommen. Die von Medico International veranstaltete Tagung hatte das Thema Die (Re-)Konstruktion der Welt. Den Hauptvortrag hielt Achille Mbembe, der über die Hintergründe für Spaltung und Polarisierung im nationalen und globalen Maßstab sprach. Am Ende stelle er die Frage: „What do we still have in common?“ Was haben wir eigentlich noch gemeinsam? Er hatte eine Antwort auf diese Frage parat, und diese war ebenso einfach wie eindrucksvoll: Wir müssten anerkennen, sagte er, „dass wir vielleicht eine gemeinsame Biographie haben, die wir zusammen schreiben sollten.” ( “that we might have a common biography that we would want to write together.”) Genau das ist die Art von Haltung, mit der sich nicht nur der Graben zwischen Politik und Kultur überwinden ließe, sie wäre auch die Grundlage, auf der endlich gemeinsame Anstrengungen für die Reparatur der Welt und des Planeten in Gang gesetzt werden könnten.