Stellungnahme zum EKD-Papier „Evangelische Verantwortungseliten – Eine Orientierung“ aus dem ea-Arbeitskreis "Evangelische Bildung und Verantwortung"

Einleitung

Die Evangelische Akademikerschaft in Deutschland (EAiD) begrüßt, dass die EKD das Thema „Evangelische Verantwortungseliten“ auf ihre Agenda gesetzt hat und dass der Rat der EKD dazu die Erklärung „Evangelische Verantwortungseliten – Eine Orientierung“ verabschiedet hat (EKD-Texte 112, PDF-Download).

Die EAiD hat sich mit dem Thema „Evangelische Verantwortungseliten“ auf ihrer Delegiertenversammlung am 9.-11. April 2010 in Fulda ausführlich beschäftigt und dort einen Arbeitskreis “Evangelische Bildung und Verantwortung” eingesetzt, der die vorliegende Stellungnahme erarbeitet hat. Er nimmt damit die im Vorwort des EKD-Papiers formulierte Zielsetzung auf, „eine kirchliche Diskussion über diese Fragen an[zu]regen“ (S. 7).

I. Kritik des Elite-Begriffs

1.   Skepsis gegenüber dem Elite-Begriff

Der Missbrauch des Elite-Begriffs zu chauvinistischen und totalitären Zwecken in Geschichte und Gegenwart gibt Anlass zu einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber dem Begriff der „Elite“. Eine Anknüpfung an demokratische und evangelische Elite-Konzeptionen, wie die EKD-Veröffentlichung sie versucht, ist zwar geeignet, den Begriff umfassender zu konturieren und dadurch zu entschärfen; sie kann und darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Begriff massiv belastet und problematisch ist. Die Verwendung des Elite-Begriffs innerhalb der von der EKD vorgelegten „Orientierung“ bleibt trotz aller Aufarbeitung der Begriffsgeschichte unseres Erachtens zu unkritisch, weil sie die historischen Belastungen des Begriffs zwar darstellt, dann aber mit dem Argument der „Normalisierung“ (S. 14) am Elite-Begriff fest hält, ohne die Frage seiner Eignung grundsätzlich zu diskutieren und mögliche Alternativen (z.B. die weniger problematische Rede von „evangelischen Verantwortungsträgern in gesellschaftlichen Führungspositionen“) zu prüfen.

2.   Eliten und Leistung

In seiner Anknüpfung an positiv bewertete Elite-Traditionen hebt die EKD-Veröffentlichung vor allem das Leistungsprinzip hervor: „Seit Beginn der Neuzeit verkörpern Eliten das Prinzip der individuellen Leistung“ (S. 12). Sowohl in anderen demokratischen Gesellschaften wie den USA und Frankreich als auch im wiedervereinigten Deutschland sei das Kriterium der persönlichen Leistung für den Zugang zur Elite ausschlaggebend. Dem widerspricht allerdings nicht nur die tägliche Erfahrung, dass gesellschaftliche Führungspositionen oft nach anderen Kriterien als dem der persönlichen Leistung besetzt werden (z.B. nach Parteizugehörigkeit oder persönlichen Beziehungen), sondern auch die Tatsache, dass es Mitglieder der gesellschaftlichen Führungselite immer wieder an herausragender Leistung fehlen lassen. So sehr Talent und Leistung dafür förderlich sein können, in herausgehobene Verantwortungspositionen und Ämter zu kommen, so wenig sind sie also für die Zugehörigkeit zur Elite tatsächlich ausschlaggebend. Wir halten den Leistungsbegriff deshalb nicht für geeignet, den Elite-Begriff in der aktuellen Diskussion zu füllen.

3.   Funktionselite statt Exzellenzelite

Wir unterstützen vielmehr die Bemühungen an zentralen Stellen des EKD-Textes, einen soziologisch-beschreibenden, funktional orientierten Elite-Begriff als Grundlage eines Verständnisses von evangelischen Verantwortungseliten zu entwickeln: Elite ist danach jede Gruppe von Menschen, „die in herausgehobenen Funktionen und Ämtern tätig sind und auf Entscheidungen und Entwicklungen in der Gesellschaft, in ihren Institutionen sowie in sozialen Bewegungen oder Initiativen maßgeblichen Einfluss haben“ (S. 7). Dies gilt unabhängig davon, ob sie ihre „Aufgabe gut ausführen oder schlecht, gemeinwohlorientiert oder egoistisch, erfolgreich oder scheiternd, verantwortlich oder fahrlässig“ (S. 7). Indem ein solcher Begriff darauf verzichtet, Elite von vornherein mit besonderer Leistung und Exzellenz zu verbinden, kann er die Vorbehalte gegenüber einem wertenden Elitebegriff (Elite sind „die Besten“) umgehen, der immer auch eine Abwertung der nicht zu Elite gezählten Menschen bedeutet. Denn nicht nur gibt es Mitglieder der Funktionseliten, die es eben an herausragenden Qualitäten und Leistungen fehlen lassen, sondern auch viele talentierte und engagierte Menschen, die trotzdem nicht zur Funktionselite gehören.

4.   Funktionseliten als Verantwortungseliten

Wir teilen die Position des EKD-Textes, dass Eliten heute immer demokratisch legitimiert und rechenschaftspflichtig sein müssen (S. 10, 24). Als Funktionseliten bekommen sie Verantwortung auf Zeit und für bestimmte Aufgaben übertragen und sind nicht durch Gruppenzugehörigkeit oder gesellschaftlichen Status per se Elite. Das bedeutet, dass sie abberufen und ersetzt werden können und dadurch ggf. auch ihren Elite-Status verlieren. Moderne Eliten sind damit in erster Linie Verantwortungseliten, nämlich Menschen, „die in herausgehobener Weise Verantwortung tragen“ (S. 7) und zugleich anderen gegenüber verantwortlich sind. Wer zur Elite gehört, „muss sich der Verantwortung für andere stellen, als moralische, als soziale und als politische Herausforderung“ (S. 14). Wir unterstützen das Anliegen des EKD-Textes die Rolle evangelischer Eliten innerhalb dieses Konzepts von Verantwortungseliten genauer zu bestimmen.

5.   Egalitätsprinzip und Eliteförderung

Wir teilen die Einschätzung des EKD-Textes, dass einerseits moderne Eliten „nur Eliten in einer prinzipiell egalitären Gesellschaft“ (S. 12) sein können, dass andererseits eine völlig egalisierte Gesellschaft jedoch weder wünschenswert noch möglich ist (S. 23). Deshalb bedeutet es keinen Widerspruch, einerseits bestimmte Menschen mit besonderer Verantwortung und damit auch besonderer Macht auszustatten und „zugleich nach dem Abbau ungerechtfertigter [sozialer] Ungleichheit zu streben“ (S. 25). Insofern unterstützen wir auch das im EKD-Text postulierte „Ineinander von grundlegender Egalität und hilfreichen Prozessen der Elitebildung“ (S. 22). Denn wohl verstandene „Eliteförderung“ einerseits und Eintreten für gesellschaftlichen Ausgleich und soziale Gerechtigkeit andererseits stehen keineswegs im Gegensatz zueinander.

II. Evangelische Verantwortungseliten

6.   Selbstverständnis Evangelischer Verantwortungseliten

Die EKD-Veröffentlichung definiert „evangelische Verantwortungseliten“ als Funktionsträger, die sich „dem Anspruch stellen, in besonderer Weise ‚verantwortlich‘, d.h. in Orientierung an den Grundeinsichten eines christlichen Lebens zu handeln“ (S. 23).  Die „besondere Weise“, in der evangelische Verantwortungseliten „verantwortlich handeln“, besteht dabei weder in einem besonderen Grad ihrer Verantwortlichkeit noch in einer besonderen Vollkommenheit ihres Tuns. Sie besteht vielmehr inhaltlich in dem „spezifisch evangelischen Ethos“ (S. 26), das für ihr Handeln leitend ist, und in Gott als dem zusätzlichen Gegenüber ihres Verantwortungsbewusstseins. Erstaunlicherweise ist gerade dieser zentrale Aspekt innerhalb des EKD-Textes nur recht knapp ausgearbeitet. So formuliert der Text sehr summarisch, zu den orientierenden Grundansichten evangelischer Verantwortungseliten gehöre „unabdingbar ein Wissen um die Rechtfertigung allein aus Gnade, ein Bewusstsein um die Verantwortung für den Nächsten und ein Handeln angesichts der Grenzen der eigenen Gestaltungs­macht“ (S. 23). Wir halten es für wichtig, gerade diesen theologischen Kern eines evangelischen Verantwortungsverständnisses weiter auszuarbeiten und zu plausibilisieren. Leitend sollten dabei die Fragen sein, inwiefern evangelische Mitglieder von Funktionseliten sich in ihrem Verantwortungsverständnis von dem anderer Mitglieder unterscheiden und wie sich der ethische „Selbstanspruch“ (S. 23), der im EKD-Text besonders betont wird, zum protestantischen Wissen um die universale Beanspruchung durch Gott verhält.

7.   Biblische Grundlagen von Verantwortungseliten

Wie die EKD-Veröffentlichung zeigt, ist es leicht möglich, das faktische Vorhandensein und die Legitimität von Verantwortungseliten sowohl in der alttestamentlichen als auch in der neutestamentlichen Sozialgeschichtliche zu belegen und damit das Konzept von Verantwortungseliten biblisch zu begründen. Denn für verantwortliches Verhalten von sozialen Führungspersönlichkeiten gibt es in beiden Teilen der Bibel zahlreiche Beispiele. Zurecht hebt der EKD-Text im Fazit allerdings die eher „egalisierende Dimension der jüdisch-christlichen Tradition“ (S. 18) im Hinblick auf die Elitenbildung hervor und verweist darauf, dass Elite biblisch gesehen nur „als qualifizierte Elite im Rahmen funktionaler Leitungspositionen und in Verbindung mit einem gemeinschaftlich geteilten Eliteethos vorstellbar“ (S. 21) ist.

8.   Elite und Bildung

Als Mitglieder der Evangelischen Akademikerschaft unterstreichen wir die besondere Bedeutung von Bildungsprozessen – nicht nur für die Förderung begabter junger Menschen und damit als Mittel der Elitebildung, sondern vor allem für die Entwicklung der Verantwortungsfähigkeit von Menschen überhaupt. Bildungsprozesse im umfassenden Sinne der Persönlichkeitsbildung (und nicht nur der intellektuellen oder funktionalen Bildung) sind eine unverzichtbare Voraussetzung dafür, dass Menschen verantwortungsbewusst leben und ihre soziale Rolle dementsprechend ausfüllen können. Dieser Aspekt kommt im EKD-Text nach unserer Einschätzung zu kurz, insbesondere dann, wenn die kirchliche Bildungsarbeit v.a. unter dem Aspekt eines möglichst „frühzeitige[n] Zugangs zu künftigen Eliten“ (S. 31) behandelt wird und damit der Eindruck entsteht, kirchliches Bildungshandelns geschehe v.a. im Interesse der strategischen Einflusssicherung bei künftigen Führungsgenerationen. Die Bedeutung von Bildungsprozessen und Bildungssystemen für die Entwicklung des Wertehorizonts und der Verantwortungsfähigkeit gerade auch von Führungseliten bedarf einer noch gründlicheren Betrachtung.

III. Evangelische Verantwortungseliten und kirchliches Handelns

9.   Eliten und High-Society-Milieu

Wir unterstützen die Zielsetzung des EKD-Textes, adäquate geistliche, kommunikative und intellektuelle Angebote für Mitglieder der gesellschaftlichen Funktionseliten im kirchlichen und kirchennahen Leben zu schaffen. Dies gilt insbesondere für die Entwicklung „ansprechender Formen des Glaubenslebens“ (S. 11). In einzelnen Vorschlägen des EKD-Textes (z.B. „Spiritual Consulting“, „Bischofsdinner“ S. 29) sehen wir allerdings die Tendenz, Mitglieder der Funktionseliten vorrangig mit der anspruchsvollen, stilbewussten, kulturbeflissenen High-Society zu identifizieren. Damit gerät der Elitebegriff in die Gefahr, auf ein bestimmtes gesellschaftliches Milieu verengt zu werden, was den vorherigen grundsätzlichen Überlegungen nicht gerecht wird. Kirchliche und kirchennahe Angebote für Funktionseliten dürfen folglich nicht auf einen Milieuausschnitt von Eliten beschränkt oder fokussiert werden.

10. Evangelisches Profil und evangelische Lebenskunst

Wir begrüßen sehr, dass die EKD-Veröffentlichung „der Frage, was ein spezifisch evangelisches Profil im Elitehandeln sein kann, einen eigenständigen Stellenwert“ (S. 29) zuerkennt. Auch wir sehen eine vorrangige Aufgabe in der „Entwicklung eines angemessenen evangelischen Elite-Ethos und einer entsprechenden evangelischen Lebenskunst“ (S. 29). Denn dies deckt sich mit der selbstgestellten Aufgabe der EAiD, Menschen mit christlichem Glauben und kritischem Geist ein Forum zu bieten, in dem Fragen der protestantischen Identität und einer verantwortlichen christlichen Existenz offen diskutiert und gemeinsam tragfähige Antworten entwickelt werden. Erfreulich ist es deshalb, dass die EKD „in voller Würdigung und unter Berücksichtigung der Arbeit mit Eliten auf den anderen kirchlichen Ebenen und in anderen Institutionen […] die vorhandene Eliten-Arbeit fördern und systematisch reflektieren und ergänzen“ (S. 30) will. Die EAiD sollte künftig ihre eigene Arbeit verstärkt im Kontext solcher gemeinsamer Anstrengungen sehen und an der Verfolgung dieses Ziels dauerhaft mitarbeiten. Zahlreiche Angebote der EAiD, wie z.B. das Tagungs- und Veranstaltungsprogramm oder die verschiedenen Arbeitskreise verfolgen bereits jetzt das Ziel, evangelischen Verantwortungsträgern eine geistige und geistliche Heimat zu eröffnen. Dies gilt es im Kontext der kirchlichen Arbeit für evangelische Eliten auszubauen und als zielgruppenspezifischer Angebote zu profilieren.

Mitglieder des Arbeitskreises „Evangelische Bildung und Verantwortung“ der EAiD, die an dieser Stellungnahme mitgearbeitet haben: Elke Hetzel, Ammerbuch; Ulrich Knatz, Tübingen; Dr. Bertram Salzmann, Ammerbuch