Was für ein Vertrauen? Unser Vertrauen in die Pünktlichkeit der Deutschen Bahn ist wieder einmal erschüttert. Wir verpassen den Anschluss in Köln und damit die Teilnahme am Eröffnungsgottesdienst. Zum Glück gibt es Handys. Unsere Gastgeberin holt uns freundlicher Weise am Bahnhof ab. Gleich zu Beginn eröffnet sie uns, sie sei Atheistin. In den nächsten Tagen ist sie reizend um unser Wohlergehen bemüht und beim gemeinsamen Frühstück führen wir gute Gespräche. Am ersten Abend reicht es noch für das Open-Air-Konzert von Anna Loos. Vor allem laut. Leider versteht man die Texte nur sehr bruchstückhaft.
Zukunftsvertrauen in der digitalen Moderne
Am nächsten Tag Morgenandacht in der Reinoldikirche mit der Präsidentin des BGH Bettina Limperg in der Innenstadt über das Buch Hiob. Wir finden gerade noch Platz im Seitenschiff ohne Blickkontakt nach vorne. Im Anschluss kommen wir noch zurecht zur Diskussion in der Westfalenhalle über Zukunftsvertrauen in der digitalen Moderne mit Bundepräsident Steinmeier, dessen Vortrag wir leider verpasst haben. Seine Gesprächspartner sind Ranga Yogeshwar und Annette Schawan. Die riesige Halle ist gut besucht, aber nicht überfüllt. Am Nachmittag Dienst am Stand der EAiD beim Markt der Möglichkeiten. Viele Besucher zeigen sich interessiert, ihr Ernährungsverhalten und die Auswirkungen auf ihren C02-Fussabdruck mit Hilfe von konkreten Fragen und Holzscheiben unterschiedlicher Dicke zu überprüfen. Oft gehen sie nachdenklich von dannen, im Idealfall mit einem Heft der „evangelischen aspekte“ in der Tasche.
Keine Menschenopfer
Am Freitag geht es wieder am Morgen in die Westfalenhalle zur Bibelarbeit mit dem Präsidenten des Kirchentages Hans Leyendecker und der Journalistin Anja Reschke über die Geschichte von der Bereitschaft Abrahams, seinen Sohn Isaaks Gott zum Opfer zu bringen. Was für ein Vertrauen? Bei allen Fragen, die dieser Text aufwirft, am Ende doch das Happy End: Gott will keine Menschenopfer! Die Veranstaltung der Grünen mit den Bundestagsabgeordneten Kathrin Göring-Eckardt und Konstantin von Notz in der Innenstadt ist nur schwach besucht. Wie könnte es anders sein, es geht um Umwelt- und Verkehrspolitik. Am Nachmittag wieder Standdienst, bevor es am Abend zum Phönixsee geht, wo sich die EAiD-Mitglieder zu einem Treffen verabredet haben. Durch eine sehr kurzweilige Führung erfahren wir viel über die Industriegeschichte der Stadt Dortmund und die gelungene Konversion nach dem Ende des Stahlwerks Phönix.
Verbotene Diskussionsveranstaltung
Am Samstagvormittag besuchen wir die vom Solidaritätswerk Kairos Palästina verantwortete Veranstaltung „40 Jahre israelische Besatzung – Wir dürfen nicht schweigen“, die außerhalb des offiziellen Programms in der Evangelischen Paul Gerhard Gemeinde einen Ort gefunden hat. Große Empörung herrscht unter den Anwesenden über das kurzfristige Verbot einer Diskussionsveranstaltung mit Ulrich Duchrow zu diesem Thema auf dem Markt der Möglichkeiten durch das Kirchentagspräsidium. Das alles ist wahrlich kein Ruhmesblatt für den Kirchentag. Wo bleibt das Vertrauen in die Kraft einer offenen und kontroversen Dialogkultur, wie sie doch der Kirchentag sonst für sich in Anspruch nimmt?
Leider können wir nicht lange bleiben. Die Pflicht am Stand der EAiD ruft. Am späten Abend wieder in der Reinoldikirche Gottesdienst zum Thema „Traut Euch! Klimagerechtigkeit wagen“, der wesentlich von jungen Aktivisten der Bewegung „Fridays for Future“ gestaltet wird. Solche Ermutigungen tun gut!
“Man lässt keine Menschen ertrinken.”
Am Sonntag der übliche große Schlussgottesdienst im Westfalenstadion – heute neumodisch Signal-Iduna Park. Zugegeben: das Stadion ist mit über 80.000 Plätzen das größte Fußballstadion Deutschlands und schwer zu füllen, aber wenn es nur zur Hälfte besetzt ist, will nicht die richtige Stimmung aufkommen, wie man sie von diesen Gottesdiensten sonst gewohnt ist. Eine anfänglich schlechte Einstellung der Lautsprecheranlage trägt das ihrige dazu bei. Was aus der Predigt von Pfarrerin Sandra Bils vor allem haften bleibt ist der Satz mit Blick auf die Flüchtlingstragödien im Mittelmeer: „Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt!“ Da kommt zu Recht Applaus auf.
“Zeigt gemeinsam euren Glaubensmut.”
Was bleibt im Rückblick: Wie immer anregende Gespräche und Begegnungen mit interessanten Menschen, auch mit solchen, die keine kirchlichen Insider sind – wie unsere Quartiergeberin, und viel Prominenz hautnah. Neue Einsichten und Anregungen zum Weiterdenken in theologischen und gesellschaftspolitischen Fragen. Das Staunen über die Vielfalt der Angebote beim „Markt der Möglichkeiten“, die gute Gemeinschaft und die interessanten Gespräche am Stand der EAiD. Der Standdienst ist anstrengend, aber der Einsatz lohnt sich. Wir dürfen da auch künftig nicht fehlen. Hat was gefehlt? Täusche ich mich? Aber die große Zeit des Kirchentages als einer „Bürgerbewegung“, die maßgebliche Impulse in bestimmten gesellschaftspolitischen Fragen zu geben in der Lage ist, wie sie der frühere Präsident Helmut Simon propagiert hat, scheint vorbei zu sein. Vielleicht liegt es an mir, dieses alles beherrschende mitreißende Engagement für ein bestimmtes Thema mit einer Ausstrahlung weit über den Rand der Kirche hinaus habe ich in Dortmund vermisst. Aber es besteht kein Grund zur Resignation, denn bis zum nächsten ökumenischen Kirchentag in 2021 in Frankfurt a.M. mag gelten, wozu Sandra Bils am Ende ihrer Predigt im Schulgottesdienst über Hebräer 10, 35-36 uns alle ermutigt hat: „Werft euer Vertrauen, eure Unerschrockenheit, euren Glaubensmut nicht weg. Behaltet euer Vertrauen, seid unerschrocken, zeigt gemeinsam euren Glaubensmut. Wir haben Gott an unserer Seite. Seine Zeit ist ganz und gar nicht vorbei. Unsere Zeit als Christinnen und Christen in dieser Welt ist nicht vorbei. Ich bin sicher: Wir werden gebraucht. Vielleicht mehr denn je.“
Im Übrigen: Die Deutsche Bahn hat uns gut und sogar pünktlich zurück nach Hause gebracht. Was für ein Vertrauen!
Jörg Winter