Immer diese Crux mit den Eliten Ein Diskussionsbeitrag von Dieter Schart

Brauchen politisch-kulturelle Systeme überhaupt Eliten? Sind sie vielleicht überflüssig wie ein Kropf? Zumal in demokratischen Gesellschaften? Was sind überhaupt Eliten?


Sie sollen vom Wort her eine „Auswahl“ sein, eine „Auslese der Besten?“

Doch worin besteht ihr „Ausgewähltsein“? Ist es der Machtbesitz? Also: Machteliten. Ist es die adlige Geburt? Oder das Geld? Finanz- und Wirtschaftseliten. Oder der revolutionäre Elan? Die Revolutionshelden der ersten Stunde? Oder sind es solche, die hohe Verdienste um die Wissenschaft, die Kunst, vielleicht sogar um die Religion haben?

Verehrung und Nachfolge finden Eliten bei denen, die sich mit der Sache identifizieren, für die die Eliten stehen. Von den anderen werden sie abgelehnt, bekämpft und auch auf die Guillotine geschickt. Eliten. Es gibt sie, tatsächlich. Viele drängen danach, dazu zu gehören, „aufzusteigen“, ohne aber die Verpflichtungen übernehmen zu wollen, die mit dem Elite-Sein verbunden sind.

1.

Wir informieren uns bei Arnold Toynbee ( 1889-1975) (A Study of History 1934-61).

Für ihn sind Eliten ein wichtiger Motor in den jeweiligen politischen und kulturellen Entwicklungsprozessen der Gesellschaft und ihrer Kultur. Politisch-kulturelle Systeme sind ihrer existentiellen Grundbedeutung nach eine Hilfe für den einzelnen wie für die gesamte Gemeinschaft, um mit den Herausforderungen des Lebens besser fertig werden zu können und darüber hinaus Spielräume eröffnet zu kriegen, die der persönlichen Entfaltung wie der Sicherung der Existenz dienen.

Die Veränderungsprozesse kommen nie zum Stillstand. Sie fordern auf ihre Veränderungen hin (challenge) sachgerechte Antworten (response), Stillstand oder Unfähigkeit, auf die neuen Herausforderungen zutreffend zu antworten, führt automatisch zu gesellschaftlichen Krisen. Toynbee glaubt sogar, einen schematischen Ablauf solcher Wandlungsprozesse in der bisherigen Geschichte der Kulturen erkennen zu können:

Erreichen die politisch-kulturellen Krisen einen Höhepunkt und können nicht mehr zur Zufriedenheit der Massen bewältigt werden, tritt in der Regel eine charismatisch-begnadete Führerperson auf. Ihre Ideen und Visionen breiten sich sehr schnell aus und finden begeisterten Zuspruch und mehr und mehr auch Anhänger.

Die Eliten des Alten werden unglaubwürdig, sie werden als Hemmnis des Neuen herausgestellt und ihre Privilegien als „fette Pfründe“ ohne nennenswerte Gegenleistung für die Massen und deren reale wie emotionale Existenzbewältigung bloßgestellt.

Neue Eliten formieren sich. Sie tragen die neuen Ideen ins Volk, setzen sich für ihre Verbreitung ein und kämpfen – erst verbal, dann demonstrierend, später aggressiv – gegen die alten Eliten. Manchmal sogar in blutigen Kämpfen.

Ist das Alte, nämlich die auf die veränderten geschichtlichen Verhältnisse hin antwortlosen Eliten, zurückgedrängt und später aus seinen Positionen vertrieben, dann setzen die neuen Eliten unter dem Jubel der Massen neue Konzepte, neue Entwicklungen, neue Visionen durch. Bis zu dem Zeitpunkt, ab dem auch sie dem neuen Neuen gegenüber zu antwortlosen Versagern werden.

2.

Eliten sind nach Toynbee der Motor in den geschichtlichen Veränderungsprozessen. Doch Toynbee ist kritisch genug, um nicht jede Rebellion gegen Bestehendes zu einem notwendigen Erneuerungsprozeß des politisch-kulturellen Lebens zu erklären. Im Gegenteil. Er warnt davor, Rebellionen z.B. haben keinen Erneuerungswert, sie sind entweder illusionistisch oder aus bloßer Machtgier geborene Aktionen. Immer aber zu Lasten der Vielen, des Volkes.

Genau an dieser Stelle meldet sich Karl Popper zu Wort. Unbeeinflußt von Toynbee, inhaltlich aber ganz in seinem Denken, fordert Popper eine kritische Rationalität. Sie wird dringend gebraucht, um die politisch-kulturellen Entwicklungsprozesse nicht im Chaos von Machtgier und egozentrischen Zielsetzungen untergehen zu lassen. Viel zu oft stehen diese Entwicklungsprozesse im Bannkreis von Ideologisierungen, Dogmatisierungen, Fanatismus, Fundamentalismus und verantwortungsloser Manipulation.

Hitler und Stalin sind ihm Lehrbeispiele für politisch-kulturelle Entwicklungen negativster Art. Aber auch diese Entwicklungen konnten sich auf Eliten stützen, ohne die ihre pseudocharismatischen „Lichtgestalten“ weder ihre menschenverachtenden Ideen noch ihre zerstörerische Macht hätten verbreiten und etablieren können.

Überprüfen Sie bitte selbst heutige politisch-kulturelle Entwicklungstrends und die Rolle neuer Eliten.

Popper jedenfalls sieht Elite von der Fähigkeit her, kritisch-rational und ethisch verantwortlich in einem hervorragenden Sinne denken und handeln zu können.

Es ist für ihn ein Schock gewesen, zu sehen, wie die Intellektuellen des 20. Jahrhunderts so kläglich versagt haben. Weder ihre akademisch gebildete Kritikfähigkeit noch ihre ethische Verantwortung für das Ganze waren in der Lage, einen völlig pervers verlaufenden Entwicklungsprozeß zu stoppen und Neues, Besseres an diese Stelle zu setzen. Sie haben, nach Popper, ihre Elitefunktion verraten: Aus Feigheit und Trägheit.

3.

Elite, das ist das Fazit, sind nötig. Ihre Aufgabe ist es, die Entwicklungsprozesse von den Herausforderungen der Zeit her zu verstehen (challenge) und zutreffende und menschlich verantwortete Antworten (response) zu geben. Doch das ist gerade das Problem geschichtlicher Entwicklungen. Sie sind so vielgestaltig und auch wieder so andersartig, daß alle Theorien ihn zu fassen nicht in der Lage sind.

Popper folgert: Wir brauchen offene Gesellschaften. Weder ideologisch noch dogmatisch dominierte. Wir brauchen Gesellschaften, die rational und verantwortlich in Offenheit und mit Kompetenz ihre Entwicklungsprobleme durchdenken und ihre Antworten zur Diskussion stellen (Falsifizierbarkeit der Wahrheit). Diese Aufgabe kommt neuen Eliten zu. Ja, wir brauchen solche neuen Eliten.

Eine große und sehr wichtige Aufgabe. Eliten sind kein Selbstbedienungsladen, sondern Verantwortungsträger. Sie stellen sich der Diskussion und bejahen die Kontrolle ihres Machtgebrauchs. Sie sind – das ist meine Meinung – nicht ohne die persönlichkeitsprägende Kraft des Friedens, der Liebe, der Gerechtigkeit, der Verantwortung und der Würde des Menschen denkbar. Eine säkulare, demokratische Gesellschaft braucht, um wirklich funktionieren zu können, jene persönlichkeitsprägenden Kräfte, wie sie zwar im christlichen Glauben angelegt sind, leider aber nicht immer verwirklicht wurden..

Jürgen Habermas und Kardinal Ratzinger hatten sich 2004 eingestehen müssen, daß die „ neue Unübersichtlichkeit“ unserer politisch-kulturellen Welt nichts nötiger braucht als eine religiöse Fundierung, die wirklich „religiöse“ Fundierung ist.

Und zwar ganz im Sinne von I. Kants Schrift: „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793). Es geht – unabhängig von allen objektiven Religionen um die kritisch-philosophische Auslegung dessen, was vernünftigerweise Religion ihrem Wesen nach ist. Nur durch „eine Umwandlung der Denkungsart“ finden wir Menschen zurück zu einer ethisch-verantwortlichen, den Menschen in seiner Persönlichkeit stabilisierenden und in seiner Zukunftsbezogenheit ermutigenden Freiheit, die kraftvoll sich den Herausforderungen stellt, um nicht in Willkür und Gleichgültigkeit zu erstarren und die Herausforderungen unbeantwortet läßt (challenge and response). Um ihrer Säkularität willen braucht die Gesellschaft ihre glaubensmäßige Fundierung.

Und Eliten, die wieder Eliten werden: In hoher Verantwortung vor demm Ganzen, in der Bereitschaft, sich rückhaltlos für das Wohl der Gemeinschaft einzusetzen. Mit Sachkompetenz und Persönlichkeit, mit Hingabe und Vorbildlichkeit.