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Staunend begreifen, begreifend staunen

Einige Herausforderungen im Dialog der Naturwissenschaften mit religiösen Traditionen und spirituellen Bewegungen 

I. Trägt naturwissenschaftliches Denken zur Lebensbewältigung bei?

Je weiter die Blicke in den Weltraum und damit in die Vergangenheit des Kosmos reichen, je kleiner die untersuchten Bausteine der Materie, umso mehr Fragen tauchen auf. Die Wissenschaft hat gewaltiges Wissen gewonnen. Doch: „Wir fühlen, dass selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt worden sind.“ (Ludwig Wittgenstein)

Die uralten existentiellen Fragen nach dem Geist, der Seele, der menschlichen Freiheit und vor allem nach dem Sinn sowohl des menschlichen Lebens als auch des umfassenden Ganzen können die Naturwissenschaften nicht beantworten. Das relativiert jeden Anspruch, sie könnten die Gesamtwirklichkeit erfassen.

II. Wie lassen sich theologische und religiöse Sichtweisen verstehen?

Weil sie verschiedene Dimensionen der Wirklichkeit betreffen, können naturwissenschaftliche Begriffe bestenfalls metaphorisch in die theologische Rede einfließen. Und theologische Begriffe warten nicht darauf, Eingang in naturwissenschaftliche Theorien zu finden.

Beispiele: Wird ein letzter Grund der Wirklichkeit glaubend bejaht, identifiziert die Theologie diesen mit Gott. Schöpfungslehre ist keine (Pseudo-)Wissenschaft. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse über den Beginn der kosmischen Evolution erklären nicht das göttliche Schöpfungshandeln. Umgekehrt sucht trinitarisches Denken keinen Anschluss an die naturwissenschaftliche Objektwelt.

Gestaltet sich der Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie bereits schwierig, so ist er mit den institutionalisierten Religionen noch problematischer: Diese berufen sich auf Offenbarungen, die wissenschaftliche Evidenzkriterien nicht erfüllen können und wollen. Sie stellen sich anderen Wahrheitskriterien und gehen – zumindest im Prinzip – von absoluten Geltungs- und Wahrheitsansprüchen aus. Daraus leiten sie Heilsversprechen ab und geben damit Zuversicht. Das dennoch unverzichtbare Vernunftpotential der Religionen würdigt z.B. Jürgen Habermas: „Die Bedeutung der Religionen besteht vor allem darin, dass sie den Menschen auf das verweisen, was in theologischer Sprache Geschöpflichkeit heißt.“ (gekürzt). Und Volker Gerhardt betont, dass „wissenschaftliche Kenntnis nicht genügt, um das Leben zu bewältigen“.

III Wie finden wir zurück zum Staunen und zur Ehrfurcht vor dem Ganzen?

Spiritualität geht es um eine tiefere, intuitive Wahrnehmung und Erfassung unserer Existenz und um subjektive Erfahrungen, die uns helfen, uns einem umgreifenden Ganzen verbunden zu fühlen. So kann sie ein tiefgründiges Einverständnis mit unserem Leben vermitteln, eine Motivations- und Werterfahrung, die Naturwissenschaft alleine nicht bieten kann. Dazu braucht sie kein kirchliches Lehramt, und sie ist weltanschaulich weitgehend neutral.

Anstelle eines Bescheid Wissens wird das individuell Erfahrene mit überzeugender Gewissheit jenseits aller rationalen Begriffe erlebt. Deshalb geht es im Dialog zwischen Naturwissenschaften und spirituellen Bewegungen nicht um Wahrheits- und Geltungsansprüche. Zielstellung ist vielmehr eine Zusammenschau komplementärer Weltaneignungen, um rationale Vernunft mit dem spirituellen Erfassen der Wirklichkeit zu verbinden. So kann sich einerseits das Begreifen der Naturwissenschaft zu einem staunenden Begreifen vertiefen und andererseits das Staunen, das sich aus spirituellem Erfassen ergibt, als ein begreifendes Staunen in der Welt verankern. Die im Dialog stehenden Menschen können damit zusätzliche Kraft in ihrer je eigenen Motivation, ethischen Ausrichtung und Sinnorientierung gewinnen. Diese Kraft, so meine ich, wird dringend gebraucht, um die anstehenden Menschheitsaufgaben wie die Bewältigung des drohenden Kollapses der Ökosysteme ernsthaft in Angriff nehmen zu können.

M. S.

 

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