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ChatGPTs „Gedanken“ über die physikalische Zeit

Jeder kann es ausprobieren, ein Gespräch („Chat“) mit der künstlichen Intelligenz ChatGPT des Entwicklers OpenAI zu führen. Das ist auch so gewollt, lernt doch die KI mit jedem Gespräch dazu. Die Erfahrung sei mehr als nur „Na ja…“, ganz erstaunlich sei die Fähigkeit Fragen und Gemeintes aufzunehmen und in flüssigem Text gut auf den Punkt zu antworten. Berichte und Beispiele in der Presse machen deutlich: Das ist nicht mehr nur ein Strichmännchen, das viel Fantasie braucht um es als Abbildung eines Menschen zu erkennen. Das wollte ich dann doch selber ausprobieren. Was fängt ChatGPT mit weitreichenden philosophisch-theologisch-naturwissenschaftlichen Fragestellungen an, wie sie uns in diesem Arbeitskreis beschäftigen?

Nachdem es im letzten Blogbeitrag um menschliche Gedanken über die physikalische Zeit ging, interessierte mich, was denn ChatGPT über die Zeit „denkt“ – besser: schreibt. (Der Gesprächsverlauf kann hier nachgelesen werden.) Wir klären erst mal, ob es Zeit überhaupt gibt: Für ChatGPT gibt es Zeit deshalb nicht, „weil es keine objektive und unabhängige Definition der Zeit, die für alle Kulturen, Philosophien und Wissenschaften gültig ist“ gibt. ChatGPT ist ungeheuer belesen und kann aus der Belesenheit Texte zu gegebenen Fragen erzeugen. Eine Welt jenseits der Zeichenfolgen gibt es für das Programm nicht.

Dann wenden wir uns der Frage nach einer offenen Zukunft zu: Determinismus oder Indeterminismus? Diese Frage „ist eine umstrittene und kontroverse Debatte in Philosophie, Physik und anderen Wissenschaften.“ Davon ist ChatGPT auch nicht abzubringen, schließlich sagen die einen so und andere anders. Ich habe es versucht, wollte die KI vom Indeterminismus überzeugen: Wir behandeln den Zufall, die Bell’sche Ungleichung und das quantenphysikalische Messproblem. Die Bell’sche Ungleichung kann ChatGPT recht ordentlich erklären, auch, dass sie „experimentell dazu verwendet [wurde], zwischen zwei Arten von Theorien in der Quantenphysik zu unterscheiden: den deterministischen Theorien und den nicht-deterministischen Theorien.“ Nur: Eine Frage vorher hieß es noch: „Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass die Bell’sche Ungleichung ein experimentelles Ergebnis ist und nicht direkt die Theorie beurteilt.“ Auftretende Widersprüche rühren das Programm nicht – urteilen kann die KI nicht. Das ist schade, denn welcher Mensch hat schon so umfassende Kenntnisse der diskutierten Argumente? Für ChatGPT ist dann „weitere Forschung erforderlich“. Da die Maschine nicht urteilen kann, kann sie auch nicht sagen, welche Art Forschung eine Antwort erlauben würde.

Es klingt, als würde ChatGPT verstehen, was es da schreibt, aber das tut es nicht. Dass es so verständig wirkt, liegt daran, dass all die Menschen, die die Texte geschrieben haben, die die KI verarbeitet hat, etwas verstanden haben und ich durch meine Fragen fokussierten Zugang zu solch Verstandenem bekomme. Es ist wie durch ein sehr spezielles Mikroskop geschaut: Auch ein Mikroskop versteht nicht, was es meinen Augen zeigt. Aber es ist sehr nützlich, wenn man bestimmte, sehr kleine Strukturen erkennen will. Die Strukturen, auf die man mit ChatGPT schauen kann, sind sprachlich gefasste Muster menschlichen Denkens zum Thema der gestellten Frage. Es bleibt uns weiterhin überlassen zu prüfen, was wir davon nachvollziehen können und womit wir einverstanden sind. Wenn wir aber nicht einverstanden sind, brauchen wir das nicht ChatGPT zu sagen, sondern müssen es in den dazugehörigen menschlichen Diskurs einbringen, von dem wir vielleicht gar nichts wüssten, hätte uns der Chat nicht darauf aufmerksam gemacht.

So sieht also heute die Orientierung im Wissens- und Meinungsdschungel aus: Originalpublikationen -> zusammenfassende Monografien aus verschiedenen Perspektiven -> ausführliche Artikel in Fachlexika -> Einträge in Enzyklopädien -> und nun auch noch: KI-Antworten auf spezifische Fragen. Wären Menschen nicht so leicht zu täuschen und zu manipulieren und ließe sich KI dafür nicht so gut einsetzen, wäre diese neue Etappe der Informationsverarbeitung ziemlich großartig.

W.D.

 

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