Wo sich berühren Raum und Zeit… Ein Impuls zu Mascha Kalékos Gedicht

Wo sich berühren Raum und Zeit…

Wo sich berühren Raum und Zeit,
Am Kreuzpunkt der Unendlichkeit,
Ein Pünktchen im Vorüberschweben –
Das ist der Stern, auf dem wir leben.

Wo kam das her, wohin wird es wohl gehen?
Was hier verlischt, wo mag das auferstehn?
– Ein Mann, ein Fels, ein Käfer, eine Lilie
Sind Kinder einer einzigen Familie.

Das All ist eins. Was „gestern“ heisst und „morgen“,
Ist nur das Heute, unserm Blick verborgen.
Ein Korn im Stundenglase der Äonen
Ist diese Gegenwart, die wir bewohnen.

Dein Weltbild, Zwerg, wie du auch sinnst,
Bleibt ein Phantom, ein Hirngespinst.
Dein Ich – das Glas, darin sich Schatten spiegeln,
Das „Ding an sich“ – Ein Buch mit sieben Siegeln.

Wo sich berühren Raum und Zeit,
Am Kreuzpunkt der Unendlichkeit –
Wie Windeswehen in gemalten Bäumen
Umrauscht uns diese Welt, die wir nur träumen.

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Sind wir denn wirklich nur „Zwerge“ im ewigen, unermesslichen Getriebe der Billion beobachtbarer Galaxien des Universums?

Mein Innerstes wehrt sich entschieden gegen diese Zumutung. Schließlich empfinde ich alles um mich herum höchst bedeutungsgeladen – ob es das Käferchen am Waldweg  oder die steil aufsteigende Rakete zur ISS ist. Noch größere Wertschätzung bringe ich liebevollen Menschen entgegen, die mich immer wieder mit freundlichen Worten aus meinen Weltschmerz-Episoden herausholen.

Im Oberhausener Gasometer kann man seit Kurzem wieder das „Pünktchen im Vorüberschweben“ aus der Perspektive der ISS betrachten. Aus 400 Kilometern Höhe schaut man auf eine virtuelle, sich drehende Erde, die mit sphärischen Klängen ihre Runden dreht. Träumend sitzen die Betrachter in einem großen Halbkreis auf Treppen und  denken und fühlen das, was uns die Dichterin so beunruhigt fragt:

„Wo kam das her, wohin wird es wohl gehen?“

Niemals war die Zukunft des blauen Planeten dort im Weltraum ungewisser.

„Dein Weltbild Zwerg, wie Du auch sinnst, bleibt ein Phantom, ein Hirngespinst“ meint Mascha Kaléko vor über 50 Jahren. Recht hat sie. Unsere festgefügten Gedankengebäude über die Natur, über das Leben und uns selber sind auf beängstigende Weise ins Wanken geraten. Die Wissenschaft hat so ziemlich alles, was so handfest schien, entzaubert. So ist nichts mehr übrig geblieben von festgefügten Atomkernen, um die sich winzige Billardkügelchen drehen. Aufgelöst hat sich dieses Mini-Planetenbild und mit ihm unsere Sicherheiten über die handhabbare Materie „im Kreuzpunkt der Unendlichkeit“.

Durch die revolutionierenden Vorstellungen der Relativitätstheorie und der Quantenphysik vor 100 Jahren (ja, vor einem ganzen Jahrhundert) hat die Physik erkennen müssen, dass tief im innersten Innern von allem, was wir anfassen, bearbeiten und benutzen können, nichts Festes und nichts Greifbares  gefunden werden kann, sondern nur schwingende Felder von Energie, die das ganze Universum, die die Unendlichkeit durchziehen.

Alles in der Welt ist verbunden in einem nicht fassbaren Gewebe von Feldern, die sich seltsam und unberechenbar bewegen.

Wir haben es in dieser entzauberten Welt mit Rätseln zu tun und müssen Mascha Kaléko zustimmen, dass wir in „Hirngespinsten“ und unauflösbaren Rätseln gefangen sind und diese „Welt uns umrauscht“ – ob wir das nun schön finden oder nicht.

M.S.

 

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1 Gedanke zu „<span class="entry-title-primary">Wo sich berühren Raum und Zeit…</span> <span class="entry-subtitle">Ein Impuls zu Mascha Kalékos Gedicht</span>“

  1. Vielleicht überfordern wir Menschen uns, wenn wir über den stets verfeinerten, umfassenderen “Gebrauch der Welt” hinaus auch immer tiefer in das “Sein” eindringen wollen. Die Penurie dieses Ansinnens zeigt sich deutlich in der Sprache – auf die wir als soziale Wesen angewiesen sind.

    Das erleben wir bei der intensiven Diskussion in unserem AK über die Bücher von M. Haudel und H.-J. Fischbeck. Zum Beispiel schreibt Fischbeck: “Geist ist der Inbegriff aller Bedeutungen.” Was aber meint hier “Bedeutung” ? Die Seins-Analyse führt in eine weltlich nicht abschließbare Kaskade von Begriffen. Fischbeck führt den Regress bis zu Gott : “Er ist Grund für sich selbst … und nicht vermöge eines Anderen.” Haudel schreibt “… dass Gott sich seinem Wesen nach letztlich nur selbst erschließen kann, wenn man ihn als Gott gelten lässt.”

    Für uns Christen ist die Kaskade der Seins-Analyse damit abgeschlossen. Allerdings bleibt eine Frage an die Theologie: Was ist die kleinstmögliche Menge (mathematisch verstanden) an dogmatischen Sätzen ? Gelingt es den Theologen, eine solche zu finden und allgemeinverständlich zu formulieren, dann bleibt einem Menschen nur, diese für sich anzunehmen oder auch nicht. Eine Richtschnur dabei kann die eigene biographische Erfahrung sein: Hat bzw. hätte das Annehmen mein Leben erleichtert, bereichert ?

    Die letzte individuelle (!) Stufe des beschriebenen Regresses ist pragmatischer Art.

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