Staunend begreifen, begreifend staunen Impuls 6

Einige Herausforderungen im Dialog der Naturwissenschaften mit religiösen Traditionen und spirituellen Bewegungen 

I. Trägt naturwissenschaftliches Denken zur Lebensbewältigung bei?

Je weiter die Blicke in den Weltraum und damit in die Vergangenheit des Kosmos reichen, je kleiner die untersuchten Bausteine der Materie, umso mehr Fragen tauchen auf. Die Wissenschaft hat gewaltiges Wissen gewonnen. Doch: „Wir fühlen, dass selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt worden sind.“ (Ludwig Wittgenstein)

Die uralten existentiellen Fragen nach dem Geist, der Seele, der menschlichen Freiheit und vor allem nach dem Sinn sowohl des menschlichen Lebens als auch des umfassenden Ganzen können die Naturwissenschaften nicht beantworten. Das relativiert jeden Anspruch, sie könnten die Gesamtwirklichkeit erfassen.

II. Wie lassen sich theologische und religiöse Sichtweisen verstehen?

Weil sie verschiedene Dimensionen der Wirklichkeit betreffen, können naturwissenschaftliche Begriffe bestenfalls metaphorisch in die theologische Rede einfließen. Und theologische Begriffe warten nicht darauf, Eingang in naturwissenschaftliche Theorien zu finden.

Beispiele: Wird ein letzter Grund der Wirklichkeit glaubend bejaht, identifiziert die Theologie diesen mit Gott. Schöpfungslehre ist keine (Pseudo-)Wissenschaft. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse über den Beginn der kosmischen Evolution erklären nicht das göttliche Schöpfungshandeln. Umgekehrt sucht trinitarisches Denken keinen Anschluss an die naturwissenschaftliche Objektwelt.

Gestaltet sich der Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie bereits schwierig, so ist er mit den institutionalisierten Religionen noch problematischer: Diese berufen sich auf Offenbarungen, die wissenschaftliche Evidenzkriterien nicht erfüllen können und wollen. Sie stellen sich anderen Wahrheitskriterien und gehen – zumindest im Prinzip – von absoluten Geltungs- und Wahrheitsansprüchen aus. Daraus leiten sie Heilsversprechen ab und geben damit Zuversicht. Das dennoch unverzichtbare Vernunftpotential der Religionen würdigt z.B. Jürgen Habermas: „Die Bedeutung der Religionen besteht vor allem darin, dass sie den Menschen auf das verweisen, was in theologischer Sprache Geschöpflichkeit heißt.“ (gekürzt). Und Volker Gerhardt betont, dass „wissenschaftliche Kenntnis nicht genügt, um das Leben zu bewältigen“.

III Wie finden wir zurück zum Staunen und zur Ehrfurcht vor dem Ganzen?

Spiritualität geht es um eine tiefere, intuitive Wahrnehmung und Erfassung unserer Existenz und um subjektive Erfahrungen, die uns helfen, uns einem umgreifenden Ganzen verbunden zu fühlen. So kann sie ein tiefgründiges Einverständnis mit unserem Leben vermitteln, eine Motivations- und Werterfahrung, die Naturwissenschaft alleine nicht bieten kann. Dazu braucht sie kein kirchliches Lehramt, und sie ist weltanschaulich weitgehend neutral.

Anstelle eines Bescheid Wissens wird das individuell Erfahrene mit überzeugender Gewissheit jenseits aller rationalen Begriffe erlebt. Deshalb geht es im Dialog zwischen Naturwissenschaften und spirituellen Bewegungen nicht um Wahrheits- und Geltungsansprüche. Zielstellung ist vielmehr eine Zusammenschau komplementärer Weltaneignungen, um rationale Vernunft mit dem spirituellen Erfassen der Wirklichkeit zu verbinden. So kann sich einerseits das Begreifen der Naturwissenschaft zu einem staunenden Begreifen vertiefen und andererseits das Staunen, das sich aus spirituellem Erfassen ergibt, als ein begreifendes Staunen in der Welt verankern. Die im Dialog stehenden Menschen können damit zusätzliche Kraft in ihrer je eigenen Motivation, ethischen Ausrichtung und Sinnorientierung gewinnen. Diese Kraft, so meine ich, wird dringend gebraucht, um die anstehenden Menschheitsaufgaben wie die Bewältigung des drohenden Kollapses der Ökosysteme ernsthaft in Angriff nehmen zu können.

M. S.

 

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4 Gedanken zu „<span class="entry-title-primary">Staunend begreifen, begreifend staunen</span> <span class="entry-subtitle">Impuls 6</span>“

  1. Für mich ist der springende Punkt eigentlich eher der, dass es zwischen richtig verstandener, wirklich objektiver Naturwissenschaft und Mystik bzw. Spiritualität keinen wirklichen Unterschied gibt. Sie führen zu den gleichen tiefen Ergebnissen. Viele der führenden Physiker des letzten Jahrhunderts waren sehr spirituelle Menschen. Und unvergessen, auch wenn mittlerweile 30 Jahre alt, Fritjof Capras “Das Tao der Physik”. Jenseits der Physik in der Biologie: Die Natur ist nur teilweise auf Konkurrenz und Überleben des Stärksten aufgebaut. Viel wichtiger sind Kooperationen, Symbiosen, Synergien. Das ist “spirituell” im Sinne von “das Netz ist mehr (wert) als der Einzelne”. Oder die fortschreitende Entwicklung von einfachen zu immer komplexeren und bewussteren Formen. Das ist ein “geistiges, spirituelles” Prinzip in der Natur. Und die Sauerstoffmoleküle, die ich gerade eingeatmet habe, stammen von jenem Baum. Der Kohlenstoff, der gerade in meinen Körper eingebaut wurde, war irgendwann einmal Teil eines anderen höheren Lebewesens. Das ist der “Sinn fürs Ganze”, ganz wissenschaftlich. Wer genau hinschaut, findet den “spirit” der Spiritualität überall um sich herum, auch in wissenschaftlichen Zusammenhängen. Nur darf die Wissenschaft hiervor nicht die Augen verschließen, wie sie es meistens tut. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf (im eigenen begrenzten Theorie- und Methodenrahmen)…

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    • Vielen Dank für den anregenden Kommentar, Frau Brietzke.
      Vielleicht liegt der Unterschied in den Motiven und Erkenntniserwartungen, die den einen Menschen nach spiritueller Tiefe suchen lässt, während eine andere Person Programme schreibt, mit denen Beobachtungsdaten ausgewertet werden, um Muster in ihnen erkennen zu können.
      Letztere können sehr wohl “die Augen verschließen”, ohne dabei ihre wirklich objektive Naturwissenschaft falsch zu verstehen. Freilich können auch ihnen die Augen geöffnet werden (ich glaube, dass das eher ein – gnadenhaftes? – Geschehen ist, als ein mutwilliger Entschluss).
      Umgekehrt werden erstere wohl nur selten den Drang verspüren, ihre Suchbewegung in einem naturwissenschaftlichen Labor fortzusetzen. Und für sie scheint es keine Garantie zu geben, dass sich das ersehnte Augenöffnen einstellt.
      Dass eine Methode zu gesicherten Ergebnissen führt, die wir als autonom gedachte Personen auch noch selber in der Hand haben (wir müssen ja nur der Methode folgen, sollten unsere Augen öffnen und nicht verschlossen halten), scheint mir ein problematischer Aspekt unseres Selbstverständnisses in der Welt zu sein. Ich meine, dass sich der Fortschrittsoptimismus in Bezug auf naturwissenschaftliche Welterkenntnis langsam tot läuft. Was im spirituellen Bereich geschieht oder nicht geschieht entzieht sich vollends der Machbarkeit.
      Freilich ist das – richtig verstanden 😉 – dann doch wieder kein Unterschied: Letztlich finden wir beides vor: die Welt, in die wir “geworfen” sind, und das Bewusstsein, mit dem wir diese Welt erfassen. Beides haben wir nicht gemacht. Inwiefern diese beiden dabei Notiz von “mir” nehmen, gar in einen Dialog mit mir treten, dürfte sowohl die Tiefe unserer Spiritualität prägen als auch, wie viel Begeisterung in das naturwissenschaftliche Forschen fließt.

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      • Herzlichen Dank an Winfried Dressler für seinen hilfreichen Eintrag. Wir könnten offensichtlich unterscheiden, ob wir über einzelne Persönlichkeiten und ihr Motive und Erwartungen reden oder über die Disziplinen, die nach anderen, übergeordneten Regeln funktionieren müssen.
        Spirituelles Erwachen sehe ich auch als Gnade.
        Ich glaube auch, dass der Fortschrittsoptimismus in Bezug auf die Naturwissenschaften zunehmend relativiert wird .
        Spirituelle Erfahrungen, so denke auch ich, können nicht GEMACHT werden, sondern geschehen, wenn man sich ihnen öffnet.
        “Ein wenig Wissenschaft trennt uns von Gott. Viel Wissenschaft bringt uns ihm näher.”
        Dr. Louis Pasteur

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    • Ich bedanke mich für den Kommentar. Es geht in meinem Text gerade nicht um komplementäre, nicht miteinander verbundene Formen der Welterkenntnis im geistigen und naturwissenschaftlichen Bereich.
      Es geht um ZUSAMMENSCHAU und den Dialog beider Zugänge. Vielleicht sollte man immer wieder betonen, dass es um unterschiedliche Zugänge geht, die nun mal historisch bedingt und durch die jeweiligen spezifischen Fragestellungen und Methoden und spezielle Begriffsrahmen ihre Besonderheiten haben.
      Es gibt nur eine Wirklichkeit. Ich will sie begreifen und eben auch bestaunen. Deshalb habe ich geschrieben:
      STAUNEND begreifen, BEGREIFEND staunen!!!
      Je länger ich in meinem Leben Naturwissenschaft erkunde, desto mehr bestaune ich die Natur und die Welt..
      Staunen ist eine spirituelle Kategorie, die selbstverständlich auch Naturwissenschaftler als Persönlichkeiten entwickeln. Doch die Forschung an sich kommt meist ohne Spiritualität aus.

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