„Leute, die noch ganz voll sind von ihrer Vergangenheit“ Fundstück 6

Wenn ein Kind anfängt zu begreifen, dass es zu jeder Wirkung eine Ursache gibt, hört das Fragen nicht mehr auf: Warum? Warum? Warum? Die Dinge sind und tun nicht mehr einfach nur das, was sie sind und tun, sie haben auch einen Grund. Und all die Gründe zu ergründen macht das Kind auf eine Weise mit der Welt vertraut, die tiefer als die Erscheinungen reicht.

Dieses Fragen lässt auch einen Erwachsenen nicht mehr los. Erinnern Sie sich noch daran, als Sie das erste Mal vom Urknall gehört haben? Und wieviel hatten sie davon verstanden, als Sie sich vermutlich sogleich fragten: „Und was war vor dem Urknall?“ Hilft es Ihnen, wenn sie z.B. von Stephen Hawking darauf hingewiesen werden, dass die Frage sinnlos sei, weil erst mit dem Urknall auch die Zeit begonnen hat? Na ja, werden Sie denken, aber irgendwie muss der Urknall ja losgegangen sein.

Als ich mich letzte Woche mit Augustinus Zeittheorie im elften Buch seiner Bekenntnisse (geschrieben um das Jahr 400) beschäftigte, stieß ich auf das heutige Fundstück: „Leute, die noch ganz voll sind von ihrer Vergangenheit, fragen uns: ‚Was machte Gott, bevor er Himmel und Erde machte?‘“ Ich will jetzt nicht Augustinus Antwort entfalten, aber die Formulierung „Leute ganz voll von Vergangenheit“ erinnert mich an Überlegungen zur Quantentheorie: Ist es nicht so, dass der Zeitstrahl gar nicht von der Vergangenheit in die Zukunft weist, sondern umgekehrt von der Zukunft in die Vergangenheit läuft? In der Gegenwart wird Mögliches aus der Zukunft zu Realem, das sogleich in der Vergangenheit festgefroren ist. Augustinus scheint den Zeitstrahl auch so wahrgenommen zu haben. Deshalb erwarten wir die Zukunft ängstlich oder hoffnungsvoll und erinnern in Freude oder Schrecken die Vergangenheit. Leute ganz voll von Vergangenheit, so lässt sich vielleicht interpretieren, sehen den Zeitstahl umgekehrt, als kämen die Dinge aus der Vergangenheit und gingen in die Zukunft. Ich könnte sie „Kausalisten“ nennen. Sie haben ein rein kausales Wirklichkeitsverständnis: Aus vergangenen Ursachen werden zukünftige Wirkungen. Mit diesem Weltbild sind die Fragen unausweichlich: Was war vor dem Urknall? Was machte Gott, bevor er die Welt gemacht hat?

Aber so ist es doch, höre ich Ihren Protest, die Dinge entwickeln sich kausal aus der Vergangenheit in die Zukunft. Und wo das nicht eindeutig ist, kommt der Zufall ins Spiel, der die nötigen Weichen stellt. Man muss ja wohl ein Kausalist sein, wenn sich die Dinge nun mal so verhalten. Ich verstehe das nur zu gut. Mit 90% meines Physikerherzens bin auch ich Kausalist. Aber dieses Weltbild hat eine unabweisliche Grenze: Die Frage nach dem Anfang hat keinen Anfang, sie stürzt ab ins Grundlose.

Was also, wenn wir uns die Zeit vorstellen als etwas, das aus der Zukunft kommt, und die ihre offenen Möglichkeiten im Augenblick der Gegenwart in eine entschiedene Vergangenheit festschreibt?

Diese Vorstellung zu erwägen möchte ich Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser überlassen, gibt es doch viele Möglichkeiten, dies zu tun. Über mitgeteilte Einsichten in den Kommentaren würde ich mich freuen.

In entschiedenen Worten hat sich Gustav Heinemann nach dem 2. Weltkrieg von zu viel Vergangenheit – gewordener Welt – befreit und Platz für eine hoffnungsvolle Zukunft geschaffen. Er sagte: „Lasst uns der Welt antworten, wenn sie uns furchtsam machen will: Eure Herren gehen, unser Herr aber kommt.“ Denn wer die Zukunft gestalten will, darf nicht ganz voll von Vergangenheit sein.

W. D.

 

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1 Gedanke zu „<span class="entry-title-primary">„Leute, die noch ganz voll sind von ihrer Vergangenheit“</span> <span class="entry-subtitle">Fundstück 6</span>“

  1. Nach Kant sind “Raum” und “Zeit” reine Formen der sinnlichen Anschauung.
    Einen Zustand in welchem beide Anschauungsformen nicht möglich sind, können wir uns nicht vorstellen.

    Wenn die Allgemeine Relativitätstheorie (ART) im Grenzfall des Urknalls auf einen solchen Zustand zuläuft, endet hier auch die Möglichkeit physikalischer Aussagen – jedoch,
    was sagt hier die Quantentheorie? Verletzt das nicht die Unschärferelation? Das mögen Spezialisten beantworten.

    Ich denke jedenfalls, beim Urknall stoßen die Naturwissenschaften und die christliche Glaubenswelt ebenso hart aufeinander wie beim Tod eines Menschen. Im ersten Fall hat die Naturwissenschaft vielleicht doch nicht ihr letztes Wort gesprochen.

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