Wie habe ich es vermisst: Löwenstein 2020. Aber 2021 – wenn auch im Umfeld einer weiteren Welle der Pandemie und einer durch sie über die letzten eineinhalb Jahre notgedrungen erfahrenen Vereinzelung – wieder in das herbstlich goldgelb strahlende Löwenstein bei Heilbronn aufzubrechen, war freudige Erwartung, aber auch etwas Beklommenheit. Es würde ja erst mein zweites „Löwenstein“ sein, und ich würde mehr als 50 Menschen über drei Tage intensiv begegnen, nach klaren Regeln, um Abstand, aber auch um Nähe bemüht.
Frau Dr. Sabine Plonz aus Münster präsentierte sich am Eröffnungsabend gleich mit erfrischender Ehrlichkeit. Biographische Details sorgten für einen überzeugenden Kontext ihrer zu erwartenden Vorträge und ein sehr aufrichtiges Bekenntnis zur sozialistischen Tradition.

In dem ersten Impulsvortrag saß ich zunächst vor allem suchend. Nicht überreden wollte mich Frau Plonz, ganz offenbar wollte sie mich ins Denken einladen ohne mir etwas Pathetisches oder etwas Suggestives unterzujubeln. Nachdem ich die Absicht dieser Kargheit in der Rede erst einmal verstanden hatte, galt es dann aber Kostbarkeiten zu finden: Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer wurden als Zeugen aufgerufen. Karl Barth mit dem rüttelnden Zitat „Die biblische Frömmigkeit ist nicht eigentlich fromm, sondern eher müsste man sie als eine wohl überlegte, qualifizierte Weltlichkeit bezeichnen“. Und ebenso überraschend die Aufforderung Bonhoeffers zur „nichtreligiösen Interpretation biblischer Begriffe“. Was ein mächtiger Aufschlag für das Folgende: „Säkulares Lesen der Bibel“ als Ermunterung zum Klären, sowohl des eigenen Standorts bei der Lektüre als auch den spezifischen Herausforderungen, unter denen die Texte entstanden sind („Vom Leben zur Bibel zum Leben“).
Mit dieser gedanklichen Freistellung wurden dann die Themen der Prophetie analysiert. Konkret, weil auch problematischer wurden dabei die „Falschen Propheten“ am Beispiel von Leo Löwenthals gleichnamiger Analyse der faschistischen Agitation in den USA analysiert. Dieses bedrückend aktuelle und darum sehr lesenswerte Buch ist nach 73 Jahren noch einmal neu bei Suhrkamp aufgelegt worden. Hier zeigt Löwenthal, wie das Ressentiment und die Feindlichkeit sich ermächtigt. Diese Loslösung des Arguments vom Inhalt erlaubt Simplifizierung. Wenn der Agitator selbst noch strategisch vorgehen mag, darf sich seine Gefolgschaft selbstvergessen zur Dummheit entschließen und wird darin auch durch den Agitator gehalten, der nicht an der Lösung der Malaise interessiert ist, sondern an der Bindung der Gefolgschaft. Diesen Aspekt des Bösen greift auch Bonhoeffer auf und charakterisiert die Dummheit als das zentrale Problem: „Dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden… (und) scheint weniger ein psychologisches, denn ein soziales Problem zu sein“. In seiner praktischen Umsetzung blieb die Aussage Bonhoeffers problematisch – „nicht ein Akt der Belehrung, sondern allein ein Akt der Befreiung (kann) die Dummheit überwinden“. Dabei wird man sich damit abfinden müssen, dass eine echte innere Befreiung in den allermeisten Fällen erst möglich wird, nachdem die äußere Befreiung vorangegangen ist“ („Nach Zehn Jahren“, D. Bonhoeffer 1943-44). Aber wo kann dann der „Akt der Befreiung“ ansetzen? Welchen Ansatz können wir aus christlicher Haltung anbieten? Mit diesen schweren Fragen ging es in die Gruppenarbeiten, in denen diese Aufwühlungen auch anhand des Psalm 82, dem Kapitel 33 aus dem Buch Exodus, oder dem Buch Leviticus Kapitel 19 oder ganz frei bearbeitet werden konnten.
Der zweite Themenschwerpunkt war die „Berufung zur Konfliktbewältigung, zum biblischen Ethos der Feindes- und Fremdenliebe“. Die Liebe und die Fülle der hierfür stehenden möglichen Alternativübersetzungen erleichtern die konkrete Arbeit: Neben der Agape, dem Eros, der Freundschaft und der verantwortungsvollen Zuwendung kann hier auch die Güte eingesetzt werden. Die letzten beiden Übersetzungen sind ja konkrete Akte des Willens und können so auch im politischen Raum Anwendung finden.
Zentral für diese Haltung der verantwortungsvollen Zuwendung ist die Exilerfahrung als identitätsstiftend für das erwählte Volk. Dieser Erfahrung des Fremdseins ist auch die Heiligung mitgegeben, die im Buch Leviticus, Kapitel 19 als eine Reihe von Regeln formuliert wird. In dieser Auflistung erscheint neben anderen sehr praktischen Regeln auch die Ächtung der Lüge und Verleumdung als eine Basis von Gemeinschaft. Vor dem Dictum zur Nächstenliebe, das hier klar angesprochen wird, gibt es den Satz „Weise deinen Mitmenschen zurecht, damit du nicht seinetwegen Schuld trägst“, und in diesem Spannungsfeld darf die „verantwortungsvolle Zuwendung“ ausgewogen praktiziert werden.
Der Zentralbegriff an dieser Stelle, so stellt Frau Dr. Plonz heraus, ist das hebräische Wort „Tqn“, das „in Ordnung bringen“ und in einer Deutung von Micha Brumlik (2016) eine gemeinsame Verantwortung, ein „einander ein Heiliges sein“ bedeutet. Konkrete Bewegungen, die sich diesem Ethos verpflichtet fühlen, sind im jüdischen Kontext die „Tikkum olam“-Bewegung, oder die „Caring community“ und „Sorgeethik“, wie sie im Umfeld der Palliativmedizin eine konkrete Form gefunden hat. Auch in der feministischen Theologie wurde der Ansatz der „Sorgetheologie“ aus dieser Haltung heraus entwickelt.
Doch diesem heilenden Ansatz stehen abwertende und ausgrenzende Strömungen entgegen, die den Nächstenliebe-Ethos herausfordern: „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ und die „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ (W. Heitmeyer). Diese Grundströmungen des Ressentiments sind beheimatet in der bürgerlichen Mitte, die in ihrem Versuch, einen realen oder befürchteten sozialen Abstieg mit dem Ziel der Bewahrung von Privilegien abzuwenden, Ausgangspunkt für eine Vielzahl von „Verhinderungsbewegungen“ ist. Als Beispiel dient der Lobbyismus, welcher den sozialen Ausgleich und notwendige gesamtgesellschaftliche Herausforderungen hintertreibt. Oder das Antidiskriminisierungsgesetz, das im Wesentlichen nur die Praxis der Stellenanzeigen, nicht aber die Praxis der Einstellung beeinflusst hat.
Der dritte Themenbereich schließlich ist das „Berufen zum Vertrauen. Zum Festhalten an der Utopie der Menschwerdung“. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen ist die Grundlage für den Gedanken des Bilderverbots. Die Festlegung einer bildlichen Darstellung Gottes oder auch des Menschen ist nicht nur die Grundlage einer Verherrlichung, sondern auch für eine Diskriminierung. Gott als „alter weißer Mann“ zementierte nicht nur eine Europa-zentrierte Perspektive. Die in ihrer Vielfalt zu schützenden Anderen bleiben in ihren Möglichkeiten geschützt und werden nicht zu Kategorien verengt. Dieses Konzept ist vorstellungskräftig im Kapitel 33 des Buches Exodus dargestellt. Hier drängt Moses zunehmend eindringlich auf eine konkrete Gotteserscheinung in seinem Bemühen, Ihn greifbar und verfügbar zu machen. Gott verwehrt ihm diese Konkretisierung, indem er ihm im Vorübergehen die Augen zuhält und in eine Felsspalte zurückdrängt, sodass er erst den vorübergegangenen Gott erkennen kann. Ein Zitat von Emanuel Levinas (1906 – 1995) fasst dies zusammen: „Der Gott, der vorübergegangen ist, ist nicht das Urbild, von dem das Antlitz ein Abbild wäre. Nach dem Bilde Gottes sein heißt nicht, Ikone Gottes sein, sondern sich in seiner Spur befinden. … [Z]u ihm hinzugehen heißt nicht der Spur, die kein Zeichen ist, zu folgen, sondern auf die anderen zuzugehen, die sich in der Spur halten“. Und diesen Segenssatz finden wir hier auch noch: „Der Segen der bleibenden Fremdheit als Gnaden-/Treuebeweis JHWs“. Wieder ist es die Haltung der Fremdheit, die für eine kraftvolle Demut grundlegend ist.
Was also sind theologisch-politische Ansatzpunkte einer Widerständigkeit? Hier sind es 6 Punkte, die wir getrost in unser Gepäck aus Löwenstein mitnehmen können:
1. Die Reich-Gottes-Hoffnung als egalitäre Verheißung und Kompass nehmen.
2. Rechtsgleichheit
3. Kritik an Recht und Praxis der Ausgrenzung
4. Das Bilderverbot herrschaftskritisch verstehen als Ausdruck der Menschenfreundlichkeit
5. Gottesebenbildlichkeit als Befreiungsbotschaft
6. Synthese von 4. und 5. als „kraftvolle Ressource, die Gott und Menschen zu geschützten Nächsten machen“
Für alle war dann natürlich der „Festliche Abend“ mit dem Griff in die Fülle der Fähigkeiten dieser wunderbaren Gemeinschaft ein ausgelassener Höhepunkt. Eine Manege mit Akrobatik und Dressur, vier Hände auf einem Klavier (das zeitweise nach 6 Händen klang), vielstimmige Chöre u.a. mit einem englischen Tongue Twister Shanty und ein wirklich zur Professionalität gediehenes Filmprojekt der Kinder-und Jugendtagung mit einem generationsübergreifenden Ensemble kamen an diesem Abend zusammen. Eine Tagungszusammenfassung im Dialog mit allerhand Zwiespältigkeiten pointierte natürlich und zuverlässig, was wir in diesen Tagen erlebt hatten.

Ich danke Frau Dr. Plonz also ganz ausdrücklich für die nüchterne Klarheit, die zurückhaltende Ehrlichkeit und die unbedingte Ethik. Vielleicht ist das ja schon an sich ein Weg: Nicht das perfekte Konzept, sondern das anhaltende Bemühen, zu dem mir Tage wie diese die Kraft geben.
